Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
nächstes Jahr in Pension, hab bei meiner Arbeit schon viel gesehen, aber wenn jemand mit dem Alter schon so kaputt ist … Wobei … beim letzten Mal …“
„Was war da?“
„Sie war für ihre Verhältnisse richtig aufgekratzt, bald könne sie alles zahlen, hat sie gesagt. Ich habe mir gedacht, jetzt wird sie offenbar wirr.“
Tobler. Ist Tobler womöglich doch bei ihr gewesen? „Hat sie vielleicht einen Freund erwähnt? Einen von früher?“
Der Gerichtsvollzieher schüttelt den Kopf. „Aber sie war wirklich anders beim letzten Mal. Üblicherweise war sie eher dumpf, abgestumpft, hat nicht viel gesagt, hat mich nicht angesehen, hat einfach irgendwohin oder in den Fernseher gestarrt. Allerdings springen mit so einem Gewicht die wenigsten herum. Bei meinem letzten Besuch ist sie gestanden und hat beinahe gelächelt. Ich hab sie gefragt, was los sei.“
„Weil Sie Geld gerochen haben“, stelle ich trocken fest.
„Ich bin kein Unmensch, nur weil ich Gerichtsvollzieher bin. Ich wollte wirklich wissen, was los war mit ihr. Ich hab nicht nachgegeben und da hat sie etwas von einem Gewinn gesagt, von einem großen Gewinn, den sie aber noch nicht habe.“
Ich sehe Wojta ratlos an. „Von welchem Gewinn?“
„So genau hat sie das nicht erzählt, sie tat sehr geheimnisvoll. Ich habe mich gefreut, dass sie gut drauf war, und habe gar nicht so viel nachgefragt, wie ich eigentlich hätte fragen müssen. Ich hab ihr nicht wirklich geglaubt. Sie haben keine Ahnung, wie viele Klienten erzählen, dass sie bald Geld haben werden. Zuerst hab ich gedacht, dass sie mich einfach nur hinhalten will, wie das eben häufig passiert. Aber sie hatte ja ohnehin nichts, was ich hätte pfänden können, und ihre gute Laune … Da habe ich überlegt: Vielleicht redet sie sich ein, dass sie im Lotto gewonnen hat. Oder dass sie demnächst gewinnen wird, weil sie von Zahlen geträumt hat. Die Illusion muss ich ihr nicht auch noch nehmen.“
„Hat sie etwas von Lotto gesagt?“
„Nein, das war nur so ein Gedanke von mir, sie hat ganz allgemein geredet, aber an der Börse wird sie wohl kaum spekuliert haben. Wobei man da heute eh nicht mehr die fetten Gewinne macht.“
„Und wenn sie doch im Lotto gewonnen hat?“, frage ich aufgeregt.
„Das ist doch sehr unwahrscheinlich. Die Sozialhilfeempfängerin, die gesundheitlich am Ende ist und dann einen Lottosechser macht. Ich habe mir trotzdem vorgenommen, in einem Monat wieder vorbeizuschauen und zu klären, ob sich etwas geändert hat.“
„… ob es dann irgendwas zu holen gäbe“, präzisiere ich.
„Das auch. Sie hat Rechnungen nicht bezahlt. Das geht eben nicht.“
Ich sehe den Gerichtsvollzieher an. „Weder Polizei noch wir haben bei ihr einen Lottoschein gefunden. Oder Geld. Was, wenn ihr jemand den Lottoschein weggenommen hat? Sehr viele gibt es nicht, die davon gewusst haben könnten.“
Wojta schüttelt den Kopf. „Bin ich jetzt vielleicht selbst unter Verdacht? Das kommt davon, wenn man sich über seine Klienten Gedanken macht. Wenn ich ihr den Lottoschein weggenommen hätte: Glauben Sie, ich würde Ihnen erzählen, dass sie von einem Gewinn gesprochen hat? Kein Problem, alle meine Kontobewegungen zu überprüfen. Und bei der Lottostelle wird ja auch vermerkt, wer hohe Gewinne einlöst. Auch wenn es unter Verschluss bleibt.“
„Woher wissen Sie das?“
„Randbereich unserer Arbeit.“
„Bekommen Gerichtsvollzieher von der Lottostelle die Namen?“
„So weit sind wir noch nicht. Zum Glück, sage ich dazu.“
Zum Glück für ihn? Wer kann überprüfen, wer im letzten Monat hohe Lottogewinne abgeholt hat? Die Polizei sicher. Bei einem begründeten Verdacht, dass ein Zusammenhang mit einer schweren strafbaren Handlung besteht. Bei Mordverdacht sicher. Aber die Behörden gehen bei Evelyn Maier ja von einem Unfall aus. Ob sie ihre Meinung ändern, nur weil sie bei ihrem letzten Aufeinandertreffen mit dem Gerichtsvollzieher auffallend gut drauf war? Und ganz allgemein von einem Gewinn gesprochen hat?
„Mir tut das sehr leid mit Evelyn Maier, das können Sie mir glauben“, sagt der Gerichtsvollzieher und verputzt den letzten Bissen der Blutwurst.
Wir haben einander dann doch weniger zu sagen, als ich zu Beginn angenommen habe, ich bedanke mich, lasse mir noch etwas von der Blut- und der Leberwurst einpacken, zahle und frage Wojtas Schwester Maria, wie ich die Öffnungszeiten ihres großartigen Heurigen erfahren kann. Die rundliche Frau gegen sechzig sieht
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