Evelyns Fall - ein Mira-Valensky-Krimi
mich an: „Am besten übers Internetz. Da schreibt sie unser Enkel immer hinein. Unter ‚ www.joschiheuriger.at ‘.“
Ich fahre in die Richtung von Evelyns Haus und überlege. Kann es sein, dass es doch ein Motiv für einen Mord gibt? Ein Motiv, das nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun hat? Eines der klassischsten Motive überhaupt: Geld? Aber warum sollte sie ausgerechnet dem Gerichtsvollzieher von einem „Gewinn“ erzählen? Hat es Sinn, im Haus nach einem Lottoschein zu suchen? Besser, ich frage die, die mit ihr in letzter Zeit zu tun gehabt haben. Das sind gleichzeitig aber auch die, die verdächtig sind. Und das alles, weil Céline nicht glauben kann, dass ihre Mutter das Mobiltelefon verloren hat. Treibst du es nicht zu weit, Mira? Das kann ich mir später überlegen. Außerdem hat man mich niedergeschlagen. Evelyns Sohn Roger. Laut Nachbarin war er der Letzte, der im Haus war. Sie hat ihm den Lottoschein gezeigt, er wollte ihr den Schein wegnehmen, vielleicht auch bloß, um ihn sicher zu verwahren, sie wollte ihn nicht hergeben, ein Streit, sie fällt mit ihrer ganzen Masse gegen den Ofen. Roger nimmt den Schein und verschwindet. Ist er raffiniert genug, das Geld so auszugeben, dass es keiner merkt? Kann ich mir nicht vorstellen. Er ist eher der Typ, der sofort einen Maserati oder so etwas kauft und gewaltige Lokalrunden schmeißt. Und wenn er ein schlechtes Gewissen hat? Das Geld noch gar nicht angerührt hat? Womöglich den Schein bis jetzt nicht eingelöst hat?
Trotzdem. Roger ist ihr Sohn. Und es gibt natürlich noch andere, zu denen Evelyn Kontakt hatte. Was ist zum Beispiel mit der Postbotin? Die hat kein Wort davon gesagt, dass es Evelyn gegen Ende besser gegangen wäre. Sie war beinahe täglich im Haus. Evelyn hat ihr den Lottoschein gezeigt, irgendjemandem musste sie den Schein einfach zeigen, und die Postbotin hat ihn gestohlen. Nein, geraubt. Das wäre dann Raubmord. Die Postbotin, die sogar auf ihrem Begräbnis war? Tickst du noch richtig, Mira? Dann ist da noch die Cousine. Keine angenehme Person. Der hätte Evelyn nie von einem Gewinn erzählt. Oder doch? In der Vorfreude, bald nicht mehr abhängig von ihr zu sein?
Ich versuche Vesna zu erreichen, aber sie geht nicht an ihr Mobiltelefon. Ich rufe auf dem Festnetzapparat in der Reinigungsfirma an und habe Jana dran. Ihre Mutter sei dem Baumattentäter auf der Spur. „Während ich hier hocken muss und Reinigungsaufträge koordinieren. Ist wirklich das Letzte. Andere machen vor der Uni noch Ferien und ich schlage mich mit Draga herum, die nicht zu diesem Arzt putzen gehen will, weil sie bei ihm schon als Patientin war. Und Slobo, der darauf besteht, dass er Securitymann ist, dabei ist er nur groß und fett und er soll ohnehin nur zwei Industriehallen sauber machen. Und das mit einem Reinigungsgerät, auf dem er sogar sitzen kann.“
„Hast ein schweres Leben“, grinse ich.
Jana seufzt. „Geht so.“
Ich erzähle ihr von der Lottosache, bei ihr kann ich sicher sein, dass sie nichts weitertratscht. Sie wird richtig aufgeregt: „Stell dir vor, wenn Evelyn wirklich im Lotto gewonnen hätte, dann wäre Céline endlich ihre Geldprobleme los!“
„Und ihr Halbbruder Roger auch“, füge ich hinzu.
„Vielleicht hat er den Schein ohnehin geklaut“, kontert Jana.
„Céline hätte das gleich gute Motiv gehabt.“
„Das kann nicht dein Ernst sein!“, ruft Jana empört. Sie hat eine ziemlich laute Stimme, wenn sie wütend ist. Auch eine Gemeinsamkeit mit ihrer Mutter. Ich halte den Hörer ein Stückchen weg von meinem Ohr. „Wenn sie wirklich im Lotto gewonnen hat, warum ist sie dann einen Tag länger als notwendig in der Bruchbude geblieben?“, fragt Jana wieder in Normallautstärke.
„Wir wissen ja nicht, was sie mit dem ‚Gewinn‘ gemeint hat. Vielleicht hat sie auch bloß Zahlen geträumt und war sicher, dass sie damit im Lotto gewinnen würde. Oder sie hat überhaupt nur fantasiert. Unbehandelte Diabetes …“
„Aber vielleicht hat sie auch gewonnen und konnte es einfach nicht fassen. Sie war langsam, sie war krank, sie war ziemlich antriebslos. Vielleicht hat ihr eine Zeit lang die Vorfreude einfach gereicht“, überlegt die Psychologiestudentin Jana.
„Kann sein“, erwidere ich nachdenklich. „Oder sie hat sich einfach nicht getraut, den Schein mit nach draußen zu nehmen, wo ihn ihr einer hätte stehlen können.“
Ich bin beim Haus von Evelyn angekommen und parke am Straßenrand. Unter den grauen, schnell
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