Everlasting
sportlichen Körper. Und sie war riesengroß. Fast zwei Meter bestimmt. Außerdem hatte sie Klasse, schon von der Kleidung her, und ich habe mich gefragt, wieso um alles in der Welt sie an einem Montagmorgen um sieben auf einer City Toilette war. Und dann hat die Kioskfrau das Fenster aufgemacht, und als ich mich danach noch mal nach der Frau umgedreht habe, war sie weg.
Ich hätte diese kleine Episode bestimmt vergessen, wenn ich die Frau nicht heute Nachmittag, als ich in der Staatsbibliothek gearbeitet habe, wiedergesehen hätte. Irgendwann habe ich aufgeschaut, und da war sie. Sie hat mich beobachtet. Zufall, habe ich gedacht. Aber dann hat sie gelächelt, und ich habe gedacht, ich kenne sie von irgendwoher. Von irgendwo anders, nicht bloß von der City Toilette. Dann hat sie sich umgedreht und ist die Treppe runtergegangen. Wollte sie, dass ich ihr folge? Ich bin jedenfalls hinterher. Ich habe gesehen, dass sie in das Bibliothekscafé ging, und ich bin ihr nach.
Sie saß allein, und ich habe mich dann zu ihr gesetzt. Sie wirkte kein bisschen überrascht. «Ich habe dich heute Morgen gesehen», habe ich zu ihr gesagt, «am Kurfürstendamm.» Und sie hat gesagt: «Bitte sprich englisch, ich verstehe kein Deutsch.» Ich habe den Satz auf Englischwiederholt, und sie hat gesagt: «Ja, ich weiß. Ich habe dich auch gesehen.» Dann hat sie mir die Hand gegeben. «Lucia», hat sie gesagt. Ich habe meinen Namen genannt und sie dann gefragt: «Sind wir uns schon mal irgendwo begegnet?» Sie hat bloß mit den Schultern gezuckt und mich angesehen, als ob, ja, als ob sie nicht genug von mir bekommen könnte. Es war ganz schön merkwürdig. Und dann hat sie gesagt: «Du bist so schön.» Und dann hat sie angefangen zu weinen – leise, stille Tränen. Und obwohl sie mir ganz fremd war, hatte ich das Gefühl, ich muss sie trösten, sie in die Arme nehmen. Aber das ging ja wohl schlecht. Also habe ich ihr bloß ein Taschentuch hingehalten. Sie hat es angestarrt, als hätte sie noch nie im Leben eins gesehen. Ich musste ein bisschen kichern, und dann habe ich ihr selbst die Tränen abgetupft – als ob sie ein kleines Kind wäre. Sie hat gesagt: «Danke.» Und dann – und das ist überhaupt das Allerseltsamste –, und dann hat sie meine Hand genommen und gesagt: «Er kommt. Er möchte, dass du weißt, dass es eine Weile dauern kann – vielleicht sogar zwei Jahre –, aber er kommt wieder.» Und ich habe gesagt: «Wer? Wer kommt?» Und sie hat geantwortet: «Das darf ich nicht sagen. Aber du weißt schon, wer. Du weißt es.» War das unheimlich, oder war das unheimlich? Ich habe am ganzen Körper Gänsehaut gekriegt, habe richtig Angst bekommen. Und dann ist sie plötzlich aufgesprungen und hat gesagt: «Ich muss jetzt. Bitte geh mir nicht nach.» Und ich habe zu ihr gesagt: «Keine Sorge. Ich mache mir sowieso schon fast in die Hose.» Und sie hat gelacht. Und dann habe ich gelacht. Dann war sie weg.
Also, was soll ich nun davon halten? Ist sie irre? Oder bin ich irre? Oder … hat Finn versucht, mir zu sagen, dass ich auf ihn warten soll? Vielleicht ist er doch ein Geheimagent und irgendwo in Pakistan untergetaucht oder im Iran oder so was.
Um Elianas Worte zu zitieren, auch ich hatte mir «fast in die Hose gemacht». Als ich den Eintrag zu Ende gelesen hatte, wippte mein Knie unkontrolliert auf und ab, so wiedamals an Silvester, als ich zum ersten Mal gesehen hatte, dass Eliana in ihrem Tagebuch über mich schrieb. Irgendetwas ging hier vor, etwas, das viel größer war als Eliana und ich.
Von Professor Grossmann wusste ich, dass sich 2293 ein Zeitfenster öffnen würde, um am 27. April 2009 in Berlin zu landen. Und Elianas Tagebucheintrag war vom 27. April 2009. Das könnte Zufall sein – ja. Aber es könnte ebenso gut sein, dass in 29 Jahren, also im Jahre 2293, irgendjemand Kontakt zu Eliana aufnehmen würde, um sie wissen zu lassen, dass ich sie nicht vergessen hatte und in zwei Jahren zu ihr kommen würde.
Um erneut Eliana zu zitieren: «War das unheimlich, oder war das unheimlich?»
Es gab so viele Fragen. Wer war Lucia? Wer zog hier die Fäden? War es ein Freund? Oder ein Feind?
Stopp! Genug! Es war zu kompliziert. Es gab zu viele Möglichkeiten. Die Fragen und Antworten würden endlos so weitergehen, bis in alle Ewigkeit. Das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass ich bis über beide Ohren in einem Sumpf von Rätseln steckte.
Ich trank viel Wein in jener Nacht. Und als
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