Everlasting
peinlich! Ich würde tot umfallen, wenn ich wüsste, dass das jemand gelesen hat. Oder liest. Ich würde glatt –
Finn schloss das Buch. Sie hatte natürlich recht. Er durfte ihr Tagebuch eigentlich nicht lesen. Es war etwas anderes gewesen, als er sie noch nicht kannte, aber jetzt, da er sie kannte, fühlte er sich wie ein Voyeur schlimmster Sorte.
Finn legte Elianas Tagebuch beiseite und griff nach seinem eigenen unfertigen Werk. Er begann zu lesen. …
… Als das Licht nachließ, legte Finn das Buch wieder weg. Was er geschrieben hatte, war schon gut, aber irgendetwas fehlte. Etwas, das Elianas Tagebuch offenbar hatte. Er schaltete eine Lampe an und las weiter in ihrem Tagebuch. Voyeur hin oder her, es war nun mal sein Job.
Eliana steckte mitten in den Abiturprüfungen – sie gingen über Wochen, Monate. Sie war jetzt gut mit Renée und Fritzi befreundet, Mädchen aus der Nachbarschaft, die sie praktisch schon ihr Leben lang vom Sehen her kannte. Sie waren irgendwann im Café Richter, am Ende der Giesebrechtstraße, ins Gespräch gekommen. Eliana joggte an den meisten Tagen morgens vor sieben Uhr und ging noch immer montags in die Staatsbibliothek.
Finn ließ das Tagebuch einen Moment sinken und stellte sich Eliana in der Staatsbibliothek vor. Er fragte sich, ob sie noch manchmal an ihn dachte. Hoffte sie, dass er wieder überraschend in der Kartenabteilung auftauchen würde? Und war
das
der Grund, warum sie dort hinging?
Finn schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, darüber nachzudenken.
Eliana schrieb, dass sie mit Emil ging, einem Maschinenbaustudenten an der Technischen Universität. Dann ging sie mit Tim, der Drehbuchschreiben an der Deutschen Film- und Fernsehakademie studierte. Wie schon bei Sam Maarten ging sie niemals ins Detail. Das wunderte Finn. Sie ging bei
allem
ins Detail, aber nicht bei den Männern in ihrem Leben – fast als würde sie spüren, dass er ihr Tagebuch las.
Was für ein alberner Gedanke. Warum sollte sie noch immer an ihn denken?
Die Monate Januar bis März 2009 las Finn im Eildurchgang. Eliana schrieb größtenteils über Alltägliches. Es war leichte Lektüre. Aber dann, eines Tages, wurde es plötzlich schwer.
Mittwoch, 1. April 2009
Anderthalb Jahre. Es ist anderthalb Jahre her. Er war da, und dann war er nicht mehr da. Ich muss verrückt sein, zu glauben, Finn würde zurückkommen. Krank, krank, krank. Nichts, absolut nichts deutet darauf hin. Und ich habe nichts Besseres zu tun, als mein Leben damit zu verplempern, auf ihn zu warten und –
Ach, ich bin wieder viel zu pathetisch! Ich vergeude mein Leben nicht damit, auf ihn zu warten. Ich mache alles, was ein Mädchen heute so macht. Und sogar noch mehr. Auf der Liste der «101 Dinge, die du tun solltest, bevor du stirbst», kann ich vielleicht erst 29 abhaken, aber ich habe fest vor, noch mindestens achtzig Jahre zu leben, und außerdem habe ich immerhin schon mehr vorzuweisen als Renée und Fritzi. Und die sind ein Jahr älter als ich! Und von uns dreien bin ich immerhin die Einzige, die den Punkt «Das Kamasutra studieren und Theorie in Praxis umsetzen» abhaken kann. Also bitte, klingt das etwa, als würde ich mein Leben vergeuden?
Kamasutra? War das etwas, das sie fürs Abitur lernen musste? Finn würde es später bei Cyclops recherchieren.
Und trotzdem. Finn ist fort, ich muss aufhören, an ihn zu denken, und mir eingestehen, dass Papa sich geirrt hat. «Liebling», hat Papa vor sechs Monaten gesagt, «er kommt wieder. Vertrau mir.» Aber Papa hat sich geirrt. Finn ist nicht zurückgekommen. Und das wird er auch nicht. Nie mehr. Das sagt mir jedenfalls mein Kopf.
Aber mein Herz. Tja, das ist eine ganz andere Geschichte. Mein Herz sagt mir, dass Finn mir nah ist. Es ist lächerlich. Ich weiß. Es ist romantischer Kokolores. Ich weiß. Ich weiß. Ich weiß.
Trotzdem.
Es ist total merkwürdig. Manchmal habe ich so ein komisches Gefühl, als würde er mir zuhören, wie jetzt zum Beispiel, als würde er den Worten zuhören, die ich in meinem Herzen spreche.
Hallo? Finn?
Bist du da?
Wo immer Du bist, ich bin hier, und rufe nach Dir. Berlin calling. Hello? Finn? Are you there? Just wanted to let you know that the I of my heart says hello to the you of yours. xo Eliana
Finn saß da und betrachtete lange die Seite. Er las Elianas Worte immer und immer wieder: «Just wanted to let you know that the I of my heart says hello to the you of yours.»
Und dann las er es sich laut
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