Everlasting
eine Warteliste.»
Finn klappte der Unterkiefer runter. «Sie machen Witze, oder?»
«Stimmt.» Er zwinkerte Finn zu. «Wir haben keine Warteliste. – In etwa zehn Tagen können Sie ins Jahr 2011, wenn Sie möchten.»
War der 2. August 2011 seine einzige Möglichkeit, Eliana wiederzusehen? Das würde bedeuten, dass sie vier Jahre auf seine Rückkehr warten müsste. Das konnte man von niemandem verlangen. Bis dahin hätte er sie ganz sicher verloren. Sie wäre dann einundzwanzig. Vielleicht wäre sie nicht mal mehr in Berlin. Sie könnte verheiratet sein. Kinder haben. Jemand anderen lieben. Der Gedanke war unerträglich. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, mit ihr zu kommunizieren!
«Warum 2011?», wollte Finn wissen. «Das ist nicht fair!» Er setzte sich auf. Sein Schlüsselbein schmerzte, und er verzog das Gesicht. «Warum nicht eher?»
«Mr. Nordstrom», sagte der Professor mit einem seltenen Anflug von Strenge. «Wie ein Vorfahre dieses Professors einst sagte: ‹Die Gesetze der Physik sind die Gesetze der Physik. Man muss sie nicht mögen, aber man muss ihnen gehorchen.›»
Früh am nächsten Tag betrat Finn den Weg zu seinem Haus auf Fire Island. Er hatte beschlossen, hier weiterzuarbeiten.
An diesem späten Maimorgen wetteiferten die Frühjahrsdüfte miteinander, die Blüten der japanischen Storaxbäumemit den amerikanischen Linden, Pfingstrosen mit den wilden Rosen.
Eine Stunde später saß Finn auf der Terrasse und schaute den Wellen zu, die sich am Strand brachen. Vor ihm auf dem Tisch lag der Inhalt eines neuen Päckchens: Elianas siebtes Tagebuch. Es war das bislang schönste. Es hatte einen glänzenden Einband aus Jacquard-Seide mit einem zarten Paisley-Muster, dessen Rot- und Pinktöne mit Gold durchwirkt waren. Das Papier war liniert und von guter Qualität – «säurefreies Papier aus nachhaltigem Holzanbau» stand im Impressum. Wie eine rasche Durchsicht der Seiten ergab, war der erste Eintrag vom 11. November 2008 und der letzte vom 22. Juni 2011. Zu Beginn des Tagebuchs war Eliana achtzehn Jahre und sechs Monate alt und an seinem Ende einundzwanzig.
Dienstag, 11. November 2008
Immer wenn ich ein neues Tagebuch anfange, sehe ich die vielen leeren Seiten vor mir und frage mich: «Wie soll ich die bloß alle füllen? Ist mein Leben denn so interessant?» Dieses hier hat 352 Seiten. Also ganz schön viel. Vielleicht bin ich ein ganz anderer Mensch als heute, wenn die letzte Seite beschrieben ist.
Vorhin bin ich einige meiner alten Tagebücher durchgegangen. In das pinkfarbene hatte ich seit Jahren nicht mehr reingeschaut. Und als ich dann darin las, hat es mich buchstäblich zu Tränen gerührt. Ich glaube, teilweise wegen des Mädchens, das ich einmal war. Sie war süß. Aber jetzt ist das Mädchen verschwunden, hat sich in mich verwandelt, in diese achtzehnjährige Meckertante, die den ganzen Tag über ihren Büchern hockt und sich über ihre Lehrer und die viele Arbeit beschwert.
Aber vor allem habe ich geweint, weil Madeline es mir geschenkthatte. Ich weiß noch, wie aufgeregt sie war, als ich das Geschenk ausgepackt habe, wie stolz sie war, weil sie fand, dass sie für mich genau das Richtige ausgesucht hatte. (Zum Glück habe ich ihr nie gesagt, wie das pinke Vinyl gestunken hat!)
Finn ertappte sich dabei, dass er laut auflachte.
Autsch!
Sein Schlüsselbein!
Madeline fehlt mir noch immer. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke. In unserem Haus wohnen zwei Schwestern. Im Hinterhaus, im dritten Stock, uns gegenüber, eine Etage tiefer. Sie sind neun und elf Jahre alt. Wenn ich aus meinem Zimmerfenster schaue, kann ich sie spielen sehen. Wie sie an ihren Hausaufgaben sitzen und sich bettfertig machen. Manchmal tröstet mich das. Aber es macht mich auch furchtbar traurig. Und neidisch. Ich bin so neidisch, weil die beiden einander haben.
Aber es hat gutgetan, die Tagebücher zu lesen. Einerseits hat es mir gezeigt, wie sehr ich mich verändert habe, aber mich andererseits auch daran erinnert, wer ich war und wahrscheinlich immer noch irgendwo tief in mir bin. Ich musste richtig lachen über diese Dreizehnjährige: so viel Wirbel, so viel Aufregung, so viel Verheißung! Johannas schiefe Kuchen hatte ich total vergessen! Und dass Robert sich an seinem sechzehnten Geburtstag betrunken hat. Dann wiederum: Oh Gott! Ich und Moritz Teichgräber – dieser dämliche Kiffer! Und Alex Landuris. Und Max. Ich und Max im Schwimmbad. Wie
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