Everlasting
mein Freund Raoul Aaronson auf seinem antiquierten Forester-Computer lesen konnte. Ich schickte sie ihm mit der Bitte, das Deutsch zu entschlüsseln und ins Englische zu übersetzen, falls er die Zeit erübrigen könnte. Ich sei überlastet, schrieb ich ihm.
Dann begann ich mit der Arbeit am ersten Teil des Tagebuchs. Die Einträge befassten sich mit Studienfragen, gelegentlichen Dates, Flirts, Filmen, dem ein oder anderen Konzert. Mein Name kam auf diesen Seiten kein einziges Mal vor – Eliana hatte mich ja seit immerhin vier Jahren nicht gesehen. Sie schrieb recht ausführlich über ihren Wettbewerbsentwurf für die Jugendherberge und hatte sogar einige Zeichnungen des Rubik aus unterschiedlichen Perspektiven eingefügt. Es war der Beweis für ihre künstlerische Urheberschaft am Rubik! Ich fragte mich, ob die Publikation ihr vielleicht posthum einen gewissen Ruhm einbringen würde. In der «Encyclopedia Universa» fand ich wenig über das Gebäude selbst, aber ich schickte eine Anfrage an Renko. Er hatte so seine geheimen Quellen außerhalb von Cyclops und würde möglicherweise mehr über die PA D-Wohneinheit herausfinden.
Während ich arbeitete, traf ich kaum eine Menschenseele. Ich ging zweimal mit Renko und Gao essen, aber die beiden waren meistens mit ihrer Arbeit oder mit sichselbst beschäftigt. Yolanda und Severin, die seit neuestem offiziell Gefährten waren, gondelten mit zwei neuen Fahrradkreationen von Severin durch die deutsche Provinz, und Rouge war völlig von ihren Quant-Projekten in Beschlag genommen. Yuka nahm mehrmals zu mir Kontakt auf, aber ich hielt es für unklug, ihr falsche Hoffnungen zu machen.
Im Norden der deutschen Provinz war der Juni kühl und nass gewesen, das machte es einfacher zu arbeiten. Aber eines Morgens, als ich im Eisberg an einem Zwischenbericht für Doc-Doc über den Rubik und Elianas Anteil an dessen Entwürfen saß, drang die Sonne endlich durch die Wolken. Ich hatte fast zwei Wochen am Stück gearbeitet – ein freier Nachmittag würde mir guttun.
Ich spielte schon seit mehreren Tagen mit dem Gedanken, Fischland-Darß und das Gebiet, das einmal Wustrow gewesen war, zu besuchen. Ich erwischte einen Citygleiter, der mich zusammen mit einer Gruppe Marinearchitekten und Maschinenbaustudenten von der EU Greifswald nach Zingst brachte – und kurz darauf war ich wieder auf der Halbinsel.
Zingst war kein quirliger Touristenort mehr. Ganz im Gegenteil. Es hatte sich mehr oder weniger in einen Metroport für Techniker, Ingenieure und Bauleute verwandelt, die sich auf der Halbinsel aufhielten, um sie in eine Meeresbergbauregion umzugestalten. Ich nahm mir ein Fahrrad, und los ging’s.
Dark Winter und das Fehlen eines wirkungsvollen Küstenschutzes hatten Fischland-Darß im Laufe der Jahrhunderte stark verändert. Die Anstieg des Meeresspiegels, Unwetter, Stürme und Überschwemmungen hatten das Land erodiert und neue Erhöhungen und Inseln entstehen lassen.Fischland war jetzt durch die See vom Darß abgeschnitten, aber durch eine Brücke erneut mit ihm verbunden worden. Das Dorf Wustrow lag nicht unter Wasser, aber von der kleinen Gemeinde zwischen Bodden und Meer, die ich kennengelernt hatte, war kaum etwas übrig geblieben. Ich holperte über die unbefestigte Straße, in der die Lorenz-Familie ihr Feriendomizil gehabt hatte, glücklich darüber, den Weg überhaupt gefunden zu haben, und suchte nach dem Fachwerkhaus mit den grün-gelben Fenstern. Aber es war ebenso verschwunden wie alle Häuser drum herum. Ich konnte nicht erkennen, ob der Zahn der Zeit die Häuser zerstört hatte, Dark Winter oder das General Global Government mit seinen Neubesiedelungsplänen.
Ich saß eine Weile an der Stelle, wo früher einmal der Geräteschuppen hinter dem Haus gestanden hatte. Ich blickte über den Bodden und versuchte, mir den harzigen Geruch des Sägemehls von Roberts Tischlerarbeiten in Erinnerung zu rufen, den Geschmack von Angelikas Käsekuchen, den Klang von Elianas kehligem Lachen. Nichts, absolut nichts war von dieser Familie übrig geblieben. Dieses totale Ausgelöschtsein, diese Unerbittlichkeit der Zeit erfüllten mich mit Furcht. Und Trauer.
Mir kam der Gedanke, dass die Endlichkeit unseres Lebens, das Wissen, dass wir sterben werden, das Fundament war, auf dem Generationen ihr Leben aufgebaut hatten. Jetzt jedoch standen wir an einem Scheideweg. Wir flirteten mit der Unsterblichkeit. Meine Generation würde möglicherweise ewig leben können, aber auf dem Weg in die
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