Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
als er durch die Windspiele fährt und die Äste der Bäume zwingt, sich am Himmel festzuklammern.
Im Garten hängen überall bunte Lichterketten, und ein seltsamer warmer Wind treibt mich auf den Mammutbaum zu, der sich düster wie ein beschützender Geist über den Sträuchern erhebt. Ich klettere in das Baumhaus, das auf dem Foto im Album der Morgans so neu aussah, inzwischen jedoch verfällt. Das Dach ist längst eingestürzt, aber der Boden ist noch stabil. Ich lege mich auf den Rücken und sehe in den Himmel, die Sterne nur undeutliche Flecken neben dem hellen, strahlenden Mond.
Man sagt, an Halloween sei der Schleier zwischen den Welten am durchlässigsten, Geister könnten ihn durchdringen und uns ins Ohr flüstern oder uns an der Wange berühren. Ich will es glauben – und tue es doch nicht. Schließlich bin ich selbst ein Geist. Aber ich bin auch die Erschafferin von Geistern, ein Mädchen, das eine Seele aus seiner Verankerung reißen und freisetzen kann. Wohin gehen diese Seelen? Ich weiß es immer noch nicht.
Mir kommen all die Mädchen und Frauen, deren Seelen ich genommen habe, in den Sinn. Von den meisten kannte ich nicht einmal die Namen. Ich stelle mir jedes meiner gelebten Leben wie eine Perle an einer Kette vor, die mich zu dem macht, was ich bin, die Summe all dieser Juwelen. Jede einzelne dieser Perlen verwandelt sich in eine Rauchwolke, eine Kette aus Geistern, eine Perle für jedes verlorene Mädchen. Wo bist du jetzt, Kailey? Ich kuschele mich in den Kragen ihrer Cabanjacke – die immer noch leicht nach ihrem Jasminparfüm riecht. Die Vorstellung, dass sie nach wie vor hier sein könnte und sieht, wie ich ihr Leben lebe, erfüllt mich mit Verzweiflung. Ich glaube es nicht, und dennoch flüstere ich: »Es tut mir leid, Kailey.«
Wenn Cyrus jetzt hier wäre, würde er nur verächtlich den Kopf schütteln. Er glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod – das sei nur ein Märchen, hat er immer gesagt, diese existenziellen Fragen seien nichts als Zeitverschwendung. Er würde sich garantiert über Kaileys phantastische Zeichnungen lustig machen, ihre magischen Kreaturen. Seiner Ansicht nach lässt sich jede Magie durch die Wissenschaft erklären.
Trotz des warmen Windes, der durch die Bretter von Kaileys Baumhaus weht, zittere ich. Das Leben, zu dem mich Cyrus verdammt hatte, ähnelte so gar nicht jenem, das ich mir damals in dem fackelbeschienenen Garten erträumt habe. Ich trauere um das Mädchen. Genauso wie um Cyrus. Mein kluger, blauäugiger Alchemist, der nichts weiter wollte als Liebe und wissenschaftliche Wahrheit. Aber irgendetwas ist bei ihm kaputt gegangen, als er ein Wiedergeborener wurde. Irgendetwas ist schiefgelaufen. Die Grausamkeit muss immer schon da gewesen sein, all die Jahrhunderte unbegrenzter Macht haben sie verstärkt.
Ich bin tief in Gedanken versunken, als ich ein Brett knarzen höre. Sofort springe ich auf und blicke angespannt in die Dunkelheit. Erleichtert atme ich aus, als ich Noah erkenne.
»Du hast mich vielleicht erschreckt!«, sage ich, als ich mich wieder auf den Boden des Baumhauses setze. »Du kannst dich einfach viel zu gut anschleichen«, füge ich hinzu.
»Es tut mir leid … deine Mom hat gesagt, dass du hier draußen bist«, erwidert er mit einem entschuldigenden Lächeln. »Es ist immerhin Halloween, da habe ich doch sicher Zutritt.«
»Es sei dir verziehen«, antworte ich und entspanne mich ein wenig.
Er setzt sich mir gegenüber, die Hände in den Taschen seiner Kapuzenjacke. Der Wind frischt wieder auf, lässt die Windspiele wild tanzen, und ihr silbriges Läuten weht zu uns herauf. Ich fühle mich angespannt wie eine Geigensaite.
»Ich dachte, du gehst auf die Party«, sage ich und beobachte sein Gesicht, während die Zweige ihre Schatten über seine Wangen zucken lassen.
»Da war ich auch, aber es war blöd dort. Ich hasse Verkleidungen«, antwortet er. »Ein Haufen Leute, die nur nach Aufmerksamkeit gieren.«
»War Nicole auch dort?«, frage ich und beiße mir auf die Lippe.
»Ja.« Er wendet den Blick ab.
Ich atme tief durch. »Sie mag dich, weißt du?«
»Ich weiß.« Er spielt mit seinen Schnürsenkeln. »Ich fürchte, ich habe ihr unbeabsichtigt Hoffnungen gemacht. Sie ist … eigentlich nicht mein Typ.«
»Wer ist denn dann dein Typ?« Die Worte sind schon ausgesprochen, bevor ich sie zurückhalten kann.
Langsam blickt er auf, seine Augen suchen die meinen. Er kichert leise. »Bis vor kurzem hätte ich gesagt, ich habe gar
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