Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
Schwirrens bewusst, ein leises, wirbelndes
Geräusch, das um mich herumrauscht, und als ich die Augen öffne, finde ich mich in einem Gang wieder. Nicht in demselben wie vorher, mit dem endlosen Läufer und den Blindenschrift-Hieroglyphen an den Wänden. Dieser hier ist breiter, kürzer, mehr wie ein Durchgang, der in einer Sporthalle oder in einem Konzertsaal zu den Sitzreihen führt. Und als ich dort ankomme, als ich das Ende erreiche, sehe ich, dass ich mich in einem Stadion befinde, einer Art überdachtem Kolosseum, nur gibt es ihn diesem hier nur einen einzigen Sitzplatz, und der ist zufällig für mich reserviert.
Ich lasse mich nieder, falte die Decke neben mir auseinander und lege sie über meinen Schoß. Dann schaue ich mich um, betrachte die Mauern, die Säulen; alles sieht alt und verfallen aus, als wäre es vor langer Zeit erbaut worden, in uralten Zeiten. Und ich überlege gerade, ob ich irgendetwas tun, den ersten Schritt machen soll, als direkt vor mir ein buntes, leuchtendes Hologramm erscheint.
Blinzelnd beuge ich mich vor und betrachte das Porträt einer Familie, das fast wie eine Halluzination erscheint. Eine Mutter, blass, fiebernd, auf dem Rücken hingestreckt und von Schmerzen verzehrt. Sie schreit vor unerträglicher Pein und fleht Gott an, sie zu sich zu nehmen. Und sie hat keine Gelegenheit mehr, den Sohn in die Arme zu schließen, den sie gerade geboren hat, ehe ihr Wunsch erfüllt wird; sie tut einen letzten Atemzug und ist dahin. Ihre Seele steigt empor, zieht weiter, während ihr Baby, das winzige, strampelnde Neugeborene, gewaschen und gewickelt und einem Vater übergeben wird, der viel zu sehr damit beschäftigt ist, seine tote Ehefrau zu betrauern, um es zu beachten.
Einem Vater, der niemals aufhört, um seine Frau zu trauern - und der seinem Sohn die Schuld an ihrem Tod gibt.
Ein Vater, der zu trinken beginnt, um den Schmerz zu betäuben - und dann zu Gewalt greift, als das nicht funktioniert.
Einem Vater, der seinen armen Sohn schlägt, seit dieser alt genug ist, um zu krabbeln, bis zu dem Tag, als er sich sinnlos betrunken mit jemand viel Größerem und Stärkerem anlegt, ein Kampf, den er nicht gewinnen kann. Sein geschundener, blutiger Leib wird in einer Gasse liegen gelassen, hoffnungslos zerschlagen, doch er lächelt trotzdem, als er seinen Atem aushaucht, als die süße Erlösung, nach der er die ganze Zeit gestrebt hat, sich endlich einstellt. Zurück bleibt ein hungriges, verlassenes Kind, das bald in die Obhut der Kirche gegeben wird.
Ein Kind mit glatter, brauner Haut, großen blauen Augen und einem goldenen Lockenschopf, der nur Roman gehören kann.
Der nur meiner Nemesis gehören kann, meinem Feind, meinem ewigen Widersacher, den ich nicht länger hassen kann. Für den ich nur noch Mitleid empfinden kann, nachdem ich gesehen habe, wie er sich, jünger als die anderen und klein für sein Alter, abmüht dazuzugehören, zu gefallen, zur Kenntnis genommen zu werden. Nur um vom unbeachteten, misshandelten Sohn zu jedermanns Diener zu werden, zu jedermanns Prügelknaben.
Selbst als Damen das Elixier braut und sie alle drängt, davon zu trinken, um sie vor den Klauen der Pest zu bewahren, ist Roman der Letzte, der etwas abbekommt. Er wird vollkommen übersehen, bis Drina ihn nach vorn zieht und darauf besteht, dass die letzten Tropfen für ihn aufgehoben werden.
Ich zwinge mich zwar, bis zum Ende dabeizubleiben, zuzusehen, wie sein Groll gegen Damen über Hunderte
von Jahren immer größer wird, wie seine Liebe zu Drina wieder und wieder zurückgewiesen wird, wie er im Laufe von Jahrhunderten so stark und so geschickt wird, dass er jeden und alles haben kann, was er begehrt, außer jenem Einen, das er sich am allermeisten wünscht. Das Eine, das ich ihm für alle Zeiten genommen habe. Und obgleich ich mir all das ansehe, war es nicht nötig.
Das Ungeheuer ist vor sechshundert Jahren geboren worden, als sein Vater ihn geschlagen hat, als Damen ihn übersehen hat, als Drina freundlich zu ihm war. Gewiss hätte er anders leben, bessere Entscheidungen treffen können, wenn ihm nur jemand den Weg gezeigt hätte. Doch man kann nicht verschenken, was man nicht hat.
Und als das Hologramm zu Ende ist, als die Bilder verschwinden und es dunkler wird, weiß ich, was ich tun muss.
Ohne dass man es mir sagt, weiß ich genau, wie ich vorgehen muss.
Also erhebe ich mich von meinem Platz, bekunde mit einem stummen Nicken meinen Dank und kehre zurück auf die
Weitere Kostenlose Bücher