Evermore - Das dunkle Feuer - Noël, A: Evermore - Das dunkle Feuer
da er weiß, dass ich nicht Drina bin, bin ich auf mich allein gestellt.
Da mir nichts anders übrig bleibt, hebe ich mein Handgelenk, das, welches sie so fest umklammert, und reiße sie so plötzlich und unerwartet herum, dass ihr Rücken gegen meinen Brust gepresst ist, ehe sie sich wehren kann.
Meine Lippen sind dicht an ihrem Ohr, als ich sage: »Tut mir leid, aber so lasse ich nicht mit mir reden.« Ich fühle, wie sie sich gegen mich wehrt, versucht, sich loszumachen, doch es nützt nichts, niemand besiegt das Ungeheuer, niemand außer …
Mein Blick wandert zu dem goldgerahmten Spiegel, der vor uns hängt, und unser Bild trifft mich wie ein Schlag - Havens hasserfüllter Blick ist das vollkommene Ebenbild des meinen … und meine eigenes Gesicht ist so zornig, so verzerrt, so monströs , dass ich es kaum wiedererkenne. Endlich kann ich wahrnehmen, was sie die ganze Zeit gesehen haben, die absolute Schande dessen, zu was ich geworden bin.
Meine Finger lockern sich, gerade genug, dass sie sich losmachen kann. In einer Wutwolke fährt sie zu mir herum, die Faust erhoben, und eine Karte aller sieben Chakren ist fest in ihrem Kopf verankert.
Doch bevor sie den Schlag vollenden kann, bin ich fort. Das grauenvoll laute Krachen, mit dem ihr Rücken gegen die Wand prallt, bleibt hinter mir zurück, als ich sie wegstoße und auf die Straße fliehe.
Und mir sage, dass sie schon wieder wird, bei Unsterblichen heilt immer alles.
Aber ich bin nicht mehr sicher, ob das bei mir so ist.
EINUNDZWANZIG
A ls ich im Laden ankomme, rechne ich damit, Jude dort vorzufinden, doch stattdessen ist die Tür abgeschlossen. Und nachdem ich vergeblich versucht habe, die Tür mit Gedankenkraft zu öffnen, suche ich in meiner Tasche nach dem Schlüssel, mit so zittrigen Fingern, dass ich ihn zweimal fallen lasse, bevor ich endlich hineinkomme. Ich sause so schnell an den Regalen und den CD-Ständern vorbei, dass ich das Bord mit den Engelsfiguren rechts von mir ganz vergesse, und so heftig dagegenstoße, dass sie zu Boden krachen, ein Haufen Trümmer und Scherben. Aber ich halte nicht inne, um das wieder in Ordnung zu bringen. Schaue kein zweites Mal hin. Ich eile einfach weiter, ins Hinterzimmer und zum Schreibtisch, wo ich den Stuhl hervorziehe und völlig zusammenbreche.
Die Stirn gegen das Holz gepresst, hänge ich zusammengesunken über der Tischplatte und bemühe mich mit aller Kraft, meinen Puls und meine Atmung zur Ruhe zu bringen. Ich bin entsetzt über mein Handeln, darüber, wie tief ich gesunken bin. Die Szene von eben läuft wieder und wieder in meinem Kopf ab.
So verharre ich eine Weile, bis meine Haut allmählich abkühlt und mein Verstand langsam klarer wird, und als ich endlich den Kopf hebe und mich gründlich umschaue, fällt mir auf, das der Kalender von der Wand gerissen und vor mich hingestellt worden ist. Das heutige Datum ist
rot umkringelt, mit einem Fragezeichen, und mein Name steht dick unterstrichen direkt daneben, außerdem die Worte Vielleicht klappt das? in Judes unordentlicher Krakelschrift.
Und sofort geht mir ein Licht auf, einfach so. Die Lösung, auf die ich gewartet habe, ist jetzt dank Jude in Reichweite. Und sie ist so unglaublich offensichtlich, ich kann es gar nicht fassen, dass ich nicht schon früher darauf gekommen bin. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich Judes Kreis an, und den kleineren, gedruckten Kreis darin, der für den Mond und seine Phasen steht. Und die Tatsache, dass dieser hier komplett ausgefüllt ist, zeigt an, dass der Mond heute dunkel sein wird.
Hekate erhebt sich erneut.
Und plötzlich weiß ich genau, was ich tun muss.
Anstatt darauf zu warten, dass der Mond hell wird und die Göttin zu bitten, den Einfluss der Königin aufzuheben, wie die Zwillinge es mich haben tun lassen - und was die Königin wahrscheinlich erst richtig wütend gemacht hat, weshalb ich auch so kläglich gescheitert bin -, hätte ich auf den heutigen Tag warten sollen, darauf, dass der Mond wieder finster wird, damit ich geradewegs zur Quelle zurückkehren kann. Dort weitermachen kann, wo ich angefangen habe … mit Hekate, der Herrscherin der Unterwelt … und ein Bündnis mit ihr eingehen kann.
Ich greife in die Schublade, lasse das Buch der Schatten links liegen und krame nach ein paar der Zutaten, die ich brauchen werde. Innerlich gelobe ich, das hier irgendwann später bei Jude wiedergutzumachen, während ich Kristalle, Kräuter und Kerzen in meine Tasche stopfe, ehe ich sie mir über
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