Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
Und deswegen habe ich ihm vergeben . Deshalb bin ich ja zu ihm gegangen, um ihm zu erklären, dass ich einen Waffenstillstand mit ihm schließen will. Ich hatte ihn gerade davon überzeugt, wir hatten uns gerade darauf geeinigt, zusammenzuarbeiten, als Jude hereinkam, die ganze Situation missverstanden hat und – tja, den Rest
kennst du ja. Aber Haven, ich habe es nie kommen sehen. Sonst hätte ich ihn aufgehalten. Ich hätte es nie geschehen lassen. Als ich endlich begriffen hatte, was passierte, war es zu spät, um den Lauf der Dinge aufzuhalten. Es war ein tragisches Missverständnis, aber weiter nichts. Es war nicht heimtückisch, es war nicht geplant, es war nichts von dem, was du vermutest.« Ich nicke, da ich selbst nicht ganz von meinen Äußerungen überzeugt bin, aber trotzdem um jeden Preis Haven davon überzeugen will.
Ob Jude die Situation wirklich missverstanden und nur versucht hat, mich zu beschützen – oder ob er wesentlich finsterere Absichten hegte und mich daran hindern wollte, das Gegengift zu ergattern, damit er mich nach Hunderten von Jahren der Zurückweisung endlich haben konnte, ist etwas, worüber ich mir seit dem Abend, an dem das alles geschehen ist, unentwegt den Kopf zerbreche. Und ich bin noch immer zu keinem Schluss gekommen.
»Er hat gedacht, ich sei in Gefahr, hätte mich übernommen und würde von schwarzer Magie beherrscht. Er hat rein instinktiv gehandelt, nicht mehr und nicht weniger. Ehrlich, du kannst deinen ganzen Zorn auf mich richten, aber bitte lass Jude heraus, okay?«
Obwohl ich mein Möglichstes tue, um sie zu überzeugen, haben meine Worte keinerlei Wirkung. Sie perlen an ihr ab wie Regentropfen an einer Fensterscheibe und hinterlassen zwar eine schwache Spur, dringen aber nicht wirklich zu ihr durch.
»Du willst Jude beschützen – das ist dein Problem.« Sie zuckt die Achseln, als wäre er so uninteressant wie die Boy Group vom letzten Jahr. »Aber du musst wissen, dass du das nur auf einem Weg schaffst, und zwar, indem du ihn trinken lässt. Sonst ist es kein fairer Kampf. Er würde es
niemals überleben. Er würde mich niemals überleben.« Erneut wendet sie sich zu den Kabinentüren um und tritt eine nach der anderen in so rascher Abfolge auf, dass es wie ein Rausch aus Tempo und Tönen ist, den ich nur staunend beobachten kann.
Übrigens habe ich nicht vor, Jude oder sonst jemanden zum Unsterblichen zu machen. Doch selbst wenn ich sie nicht dazu überreden kann, ihn in Ruhe zu lassen, gibt es noch eine letzte Sache, die ich sagen kann. Etwas, das sie sicherlich nicht weiß, etwas, das sie wahrscheinlich noch wütender macht, aber sie muss es trotzdem erfahren. Sie muss wissen, was ihr ach so geliebter Roman im Schilde führte.
»Jetzt hör mal gut zu«, sage ich mit gelassener Miene, da sie sehen soll, dass ich von ihrer Show mit dem demonstrativen Türeneintreten nicht im Geringsten beeindruckt oder eingeschüchtert bin. »Der einzige Grund, aus dem ich dir das nicht schon längst gesagt habe, ist, dass ich es nicht für nötig gehalten habe, und ich wollte dich nicht noch mehr verletzen als ohnehin schon. Aber Roman wollte sich absetzen. « Ich sehe sie durchdringend an und registriere, wie sie kaum merklich zusammenzuckt, aber immer noch heftig genug für mich, um mit neuer Überzeugungskraft weiterzureden. »Er wollte zurück nach London – nach jolly old England, wie er es genannt hat. Hat gemeint, unsere Stadt sei ihm zu langweilig, und es gäbe nicht genug action und dass er weder sie noch irgendetwas darin jemals vermissen werde.«
Sie schluckt schwer und schiebt sich den Pony aus den Augen – zwei für sie typische Merkmale, die beweisen, dass sie doch nicht so runderneuert und verwandelt ist, sondern eine ziemliche Menge der ganzen alten Unsicherheiten und
Zweifel überlebt haben. Doch sie präsentiert noch immer eine Fassade von gespielter Tapferkeit. »Netter Versuch, Ever«, sagt sie. »Jämmerlich, aber durchaus der Mühe wert, nicht wahr? Verzweifelte Leute tun verzweifelte Dinge, sagt man nicht so? Wenn das irgendjemand bestätigen kann, dann doch wohl du.«
Ich falte die Hände, als wären wir bloß zwei Freundinnen, die entspannt miteinander plaudern. »Du kannst es so lange leugnen, wie du willst, aber das ändert nichts an den Tatsachen. Er hat es mir an dem Abend erklärt, in allen Einzelheiten. Er hat sich eingeengt gefühlt, erstickt, und hat gesagt, er muss einfach mal aus allem raus. In eine andere Stadt ziehen, die größer
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