Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
würde mir Sorgen machen. Große Sorgen. Was du von ihm verlangst, ist nämlich, na ja, es ist einfach unnatürlich , oder nicht?« Sie reibt sich die Arme und erschauert, als wäre es zu schrecklich, zu unvorstellbar, als würde es sie mehr betreffen als mich. »Trotzdem wünsche ich dir natürlich das Allerbeste dafür, zumindest solange es hält.«
Sie entlässt mich aus ihrem Griff, mustert mich aber weiterhin. Es amüsiert sie, wie mich soeben unwillkürlich schauderte, und wie sehr ich mich bemühe, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie mich verstört hat.
Ihre Unterlippe schiebt sich über die Oberlippe, während sie mich abschätzig ansieht. »Was ist los, Ever? Du siehst ein bisschen … verstört aus.«
Ich konzentriere mich weiterhin darauf, langsam und tief zu atmen, und überlege erneut, ob ich davonrennen oder ihr gestatten soll, die Sache noch weiter zu treiben. Schließlich bleibe ich, in der Hoffnung, sie wieder etwas zur Vernunft bringen zu können. Mal im Ernst, geht es darum? , denke ich. Du hast mich in dieses Klo gelockt, damit du deine Bedenken über Damens und mein Sexualleben äußern kannst? Ich schüttele den Kopf, als wäre ich einfach zu träge, um mir auch nur die Mühe zu machen, es laut zu sagen.
Oder vielmehr unser mangelndes Sexualleben. Lachend fängt sie meinen Blick auf und verdreht die Augen. »Glaub mir, Ever, wie du wohl weißt, habe ich noch viel größere Pläne. Und dank dir habe ich sowohl die Zeit als auch die Macht, sie durchzuziehen. Weißt du noch, was ich letztes Mal gesagt habe, als ich dich gesehen habe – an dem Abend, als du Roman umgebracht hast?«
Ich will es schon abstreiten, doch ebenso schnell zwinge ich mich, es sein zu lassen. Es hat keinen Zweck, es noch einmal zu wiederholen. Das wird ihre Meinung nicht ändern. Obwohl Jude ein komplettes Geständnis abgelegt hat, bin ich in ihren Augen trotzdem verantwortlich für diesen speziellen Vorfall, und ich kann nichts dagegen tun.
»Nur weil du ihm den Schlag nicht verpasst hast, heißt das nicht, dass du keine Komplizin gewesen wärst. Es macht dich nicht weniger mitschuldig.« Sie lächelt und lässt einen Moment lang blendend weiße Zähne aufblitzen, während sie noch einmal gegen sämtliche Klotüren tritt und ihre Worte beim Weitersprechen mit lautem Donnern und Krachen untermalt. »Hast du das nicht auch vor ein paar Minuten deiner guten Freundin Honor erzählt? Tatsache ist nämlich, dass du dort warst, als er hineingeplatzt ist, und du nichts getan hast, um es zu verhindern. Du hast nur dagesessen und es geschehen lassen, ohne auch nur einen Finger zu seiner Rettung zu rühren. Das macht dich zur Komplizin und zur Mitschuldigen zugleich. Um einmal dein eigenes Argument gegen dich zu verwenden.«
Sie hält inne, dreht sich um und sieht mich an, während sie abwartet, wie ich auf ihre Worte reagiere. Ich soll wissen, dass sie nicht nur meine Gespräche überwacht, sondern womöglich auch zu weitaus mehr im Stande ist.
Ich strecke die Hände vor mir aus, die Handflächen in
einer Geste des Friedens in ihre Richtung gedreht, in der Hoffnung, die Sache zu klären, ehe es zu spät ist. »Wir müssen das nicht tun. Du musst das nicht tun. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht einfach friedlich nebeneinanderher leben können. Keinen Grund, warum du das hier unbedingt durchziehen …«
Doch ich kann meinen Satz nicht einmal zu Ende sprechen, als ihre Stimme mich schon übertönt, ihre Augen dunkel werden und ihre Miene sich verhärtet. »Spar dir die Mühe. Du stimmst mich nicht um.«
Sie meint jedes Wort, das sie sagt, das sehe ich ihr an. Trotzdem steht zu viel auf dem Spiel, und mir bleibt nichts anderes übrig, als es weiter zu probieren. »Okay, gut. Du bist also entschlossen, deine Drohung wahrzumachen, und du glaubst, ich kann dich nicht aufhalten. Egal. Das werden wir ja sehen. Aber bevor du etwas tust, was du garantiert bereuen wirst, musst du wissen, dass das Zeitverschwendung ist. Falls du es nämlich noch nicht kapiert hast, ich bedauere ebenso sehr wie du, was Roman zugestoßen ist. Mir ist völlig klar, dass das schwer zu glauben ist, aber es stimmt. Und obwohl ich es nicht ungeschehen machen kann, obwohl ich zu spät gekommen bin und zu langsam war, um Jude aufzuhalten, wollte ich nie, dass es so weit kommt. Ich wollte nie, dass das passiert. Am Schluss habe ich wesentlich besser verstanden, wer Roman wirklich war, was ihn angetrieben hat, und warum er getan hat, was er getan hat.
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