Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
Nähe.
Und so schließe ich stattdessen die Augen und äußere eine letzte Bitte, indem ich das Sommerland anflehe, mich zu ihm zu führen.
ZEHN
S chon im nächsten Moment bahne ich mir den Weg durch das Feld aus flammend roten Tulpen und folge dem Sog von Damens Energie bis zur Eingangstür des Pavillons.
Direkt davor bleibe ich stehen, unsicher, ob ich wirklich hineingehen will. Zuerst erscheint es mir seltsam, dass er ohne mich hierherkommt, doch dann denke ich, dass es einfach seine Art ist, mir nahe zu sein, wenn ich woanders beschäftigt bin. Ich spähe hinein und sehe lediglich ein Stück seines Kopfes über die Couch ragen. Als ich ihm gerade Bescheid sagen will, dass ich da bin, und ihm mitteilen will, was ich über das Hemd herausgefunden habe, sehe ich es.
Den Bildschirm.
Und die grässliche Szene, die gerade darauf abläuft.
Es ist mein Südstaaten-Leben.
Mein Leben als Sklavin.
Damals, als ich hilflos war und misshandelt wurde, aber durchaus noch Hoffnung hatte.
Und an diesem speziellen Tag scheint es ein Übermaß an Hoffnung gegeben zu haben – zumindest wenn man alles in Betracht zieht. Denn obwohl ich einen Moment brauche, um zu erfassen, was sich tatsächlich abspielt, ist doch eines klar: Ich werde verkauft. Werde meinem grausamen Herrn entzogen, damit ich für einen wesentlich jüngeren Mann mit dunklem, welligem Haar, einer hochgewachsenen Statur und dicht bewimperten Augen arbeiten kann, den ich augenblicklich erkenne.
Damen.
Er hat mich gekauft. Mich gerettet. Genau, wie er gesagt hat!
Trotzdem – wenn das stimmt, warum sehe ich dann so traurig aus? Warum bebt meine Unterlippe, warum stehen meine dunklen Augen ausgerechnet an dem Tag voller Tränen, an dem meine einzige wahre Liebe, mein Seelengefährte, mein Ritter ohne Furcht und Tadel gekommen ist, um mich aus einem Leben voller Schinderei zu erlösen?
Warum sehe ich so unglücklich aus und bin völlig verängstigt – blicke ständig nach hinten, während ich mich sträube und sichtlich abgeneigt bin, ihm zu folgen?
Und obwohl ich weiß, dass man nicht schnüffeln darf und ich Damen eigentlich meine Anwesenheit kundtun müsste, tue ich es nicht. Ich sage kein Wort, sondern bleibe einfach wie angewurzelt stehen. Ganz still und ruhig. Atme nur langsam, da das die entscheidende Szene ist. Die große Sache, die er die ganze Zeit verborgen hat – das Gleiche, worauf Roman und Jude angespielt haben und womit mich Haven aufgezogen hat. Und wenn ich es ganz genau wissen will, wenn ich die Szene so real und ungeschönt sehen will wie an dem Tag, als sie sich zutrug, darf ich ihn auch nicht auf meine Anwesenheit aufmerksam machen. Seine Unfähigkeit, mich zu spüren, beweist mir ja, wie vertieft er wirklich ist.
Und es dauert auch nicht lange, ehe ich es sehe – den wahren Grund hinter all der Traurigkeit. Den wahren Grund dafür, warum ich so reagiert habe.
Ich werde von meiner Familie getrennt. Von allen, die ich je geliebt habe. Vom einzigen Kreis der Unterstützung, den ich je in dieser Welt gekannt habe.
Dieser freundliche und reiche Weiße mag glauben, dass er mich
rettet und eine edle, gute Tat vollbringt, doch ein einziger Blick in mein Gesicht genügt, um zu erkennen, dass er dies auf Kosten meiner einzigen Quelle des Glücks tut.
Meine Mutter schluchzt im Hintergrund, während mein Vater schweigend neben ihr steht. Sein Blick ist kummervoll, betrübt, und doch hält er uns indirekt alle dazu an, stark zu sein. Und obwohl ich so an ihnen hänge, mich ihnen aus ganzem Herzen verbunden fühle und mir am liebsten ihren Geruch, ihre Berührungen und ihr ganzes Wesen unauslöschlich einprägen würde, werde ich ihnen schon bald entrissen.
Damen packt mich am Arm, zieht mich zu sich und weg von meiner Mutter – meiner schwangeren Mutter, die ängstlich ihren dicken Bauch umfasst, der meine ungeborene Schwester schützt –, zieht mich weg von meinem Vater, meiner Familie – weg von dem Jungen direkt hinter mir, der nach mir greift, sodass sich unsere Finger gerade so treffen, eine kühle, flüchtige Berührung, bevor ich aus seiner Reichweite gezerrt werde. Mein Blick löst sich nur widerwillig von ihm, und so mustere ich ihn eindringlich, sauge ihn ganz in mich auf, bis sich sein Bild in meinen Geist eingebrannt hat – dieser schlaksige schwarze Junge mit den durchdringenden braunen Augen, die mir auf der Stelle verraten, wer er ist.
Mein Freund – mein Vertrauter – mein Zukünftiger – der Junge, den ich in
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