Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
diesem Leben als Jude kenne.
»Still jetzt«, flüstert Damen, die Lippen an meinem Ohr, während meine Familie angewiesen wird, sich wieder an die Arbeit zu machen. »Bitte sei jetzt still. Alles wird gut. Ich verspreche, dass dir nichts geschehen wird. Solange du bei mir bist, kann dir nie wieder jemand etwas antun. Aber zuerst musst du mir vertrauen, okay?«
Doch ich will ihm nicht vertrauen. Kann ihm nicht vertrauen. Wenn ihm wirklich etwas an mir läge, wenn er wirklich so reich
und mächtig ist, wie er vorgibt, warum kann er uns dann nicht alle kaufen? Warum kann er uns nicht beisammenhalten?
Warum nimmt er nur mich?
Doch bevor ich noch mehr sehen kann, schneidet Damen die Szene heraus. Löscht sie komplett. Eliminiert sie radikal, als hätte es sie nie gegeben.
Und in diesem Moment weiß ich, dass er mit »Bearbeiten« genau das gemeint hat.
Er beschützt mich nicht nur davor, unangenehme Szenen zu sehen wie meine eigenen schauerlichen Tode, sondern er schützt sich selbst – das Bild, an dessen Erschaffung er so angestrengt gearbeitet hat –, und will mir nicht gestatten, seine weniger edlen Taten mit anzusehen.
Wie die, die ich soeben verfolgt habe.
Die Tat, die, auch wenn sie gelöscht werden mag, für immer in meinem Gehirn gespeichert ist.
Mir ist nicht bewusst, dass ich laut nach Luft schnappe, ja, ich registriere nicht einmal, dass ich überhaupt einen Laut von mir gegeben habe, als er von der Couch aufspringt und mit weit aufgerissenen Augen und verstörter Miene feststellt, dass ich direkt hinter ihm stehe.
»Ever!«, schreit er mit panischem Unterton. »Wie lange stehst du schon da?«
Doch ich gebe ihm keine Antwort. Mein Gesichtsausdruck ist Antwort genug.
Sein Blick schießt zwischen mir und dem Bildschirm hin und her, während er sich das glänzende Haar rauft, abgehackt einzelne Worte hervorstößt und schließlich die Hände seitlich herabsinken lässt. »Es ist nicht so, wie du denkst«, sagt er. »Ich schwöre es. Es ist überhaupt nicht so, wie es aussieht.«
»Warum hast du es dann herausgeschnitten?« Mein
Blick ist hart und unversöhnlich; ich bin nicht bereit, auch nur einen Millimeter nachzugeben. »Warum hast du es gelöscht, wenn nicht, um es vor mir zu verbergen?«
»Es steckt noch mehr hinter der Geschichte – viel, viel mehr, und ich …«
»Du vertraust mir nicht?«, falle ich ihm ins Wort, da ich seine Einwände nicht hören will – nicht, nachdem wir beide die gleiche schreckliche Szene gesehen haben. »Nach allem, was wir durchgemacht haben, nach allem, was ich mit dir geteilt habe, verbirgst du immer noch etwas vor mir ?« Ich ringe darum, meinen Atem zu beruhigen, und drücke mir die Hand flach auf den Bauch. Mir ist richtig schlecht. »Dann sag mir mal, Damen, wie weit geht es denn – dieses Bearbeiten , von dem du sprichst? Was verbirgst du sonst noch vor mir?« Ich muss an das denken, worauf Haven heute in der Toilette angespielt hat, und schärfe mir selbst ein, bloß nicht in ihre Falle zu tappen, nicht zuzulassen, dass sie uns spaltet und besiegt. Doch ebenso schnell lasse ich den Gedanken wieder fallen. Die Beweise, die gerade vor meinen Augen abgelaufen sind, sind glasklar.
»Zuerst wartest du bis zur letzten Minute, um mir die Wahrheit über dich und mich und Jude zu verraten – und jetzt das ?« Ich schüttele den Kopf. Mir ist nach wie vor schwindlig von der Vision, wer ich war und wer er möglicherweise sein könnte. »Ist das irgendein krankes Spielchen, das du da treibst? Macht dich das an? Sag’s mir, Damen, wie oft, in wie vielen Leben, hast du mich von meiner Familie und meinen Freunden weggezerrt?« Er sieht mich mit kreidebleicher Miene an, doch ich bin jetzt richtig in Fahrt, und es gibt kein Halten mehr. »Also, da wäre das eine Mal, das wir gerade gesehen haben, und dann das Leben, in dem ich mich gerade befinde …« Ich halte inne, da ich
weiß, dass das nicht ganz fair ist. Ich selbst bin schließlich aus freien Stücken auf dem Feld geblieben. Ich selbst war vom Zauber des Sommerlands so hingerissen, dass ich zu bleiben beschloss, während meine Familie weiterzog. Aber trotzdem – wenn er mir nicht das Elixier gegeben hätte, hätte ich sie vielleicht wiedergefunden, und dann wären wir jetzt alle zusammen. Meine Gedanken und die Bilder, die unaufhörlich dazu in meinem Kopf ablaufen, wühlen mich dermaßen auf, dass ich nicht entscheiden kann, was besser ist – wenn ich gestorben wäre und mich zu meiner Familie gesellt
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