Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
hierbleiben und nachher den Laden schließen könntest. Aber wenn nicht, macht es auch nichts. Ich kann es auch bei Ava probieren oder vielleicht sogar bei Honor, aber da du sowieso schon da bist und dich bereits erboten hast … dachte ich eben …«
Honor. Seine Freundin-Schrägstrich-Auszubildende Honor. Noch ein Thema, über das wir irgendwann sprechen müssen.
»Kein Problem.« Ich nicke, um meine Zustimmung zu bekräftigen. »Ich kann gerne bleiben und so lange arbeiten, wie es nötig ist.« Allerdings weiß ich, dass Sabine es überhaupt nicht gut aufnehmen wird, falls sie davon erfährt. Andererseits geht es sie nichts an. Und außerdem kann sie mir nicht ernsthaft vorwerfen, einem Freund in Zeiten höchster Not beigestanden zu haben.
Freund?
Ich sehe Jude erneut an und lasse aufmerksam den Blick über ihn wandern. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das Wort noch passt oder ob es überhaupt jemals gepasst hat. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit. Wir haben eine gemeinsame Gegenwart. Das ist momentan alles, was ich weiß.
Seufzend schließt er die Augen und streicht sich mit den Fingern über die Lider und die gespaltene Augenbraue, ehe er die Hand auf den Schreibtisch fallen lässt und sie kurz auf die Platte stützt. Dann fasst er tief in die Vordertasche seiner Jeans, zieht den dicken Schlüsselbund hervor und wirft ihn mir zu.
»Könntest du dann bitte abschließen?« Er geht um den Schreibtisch herum, während ich aufstehe und wir beide uns plötzlich in peinlicher Nähe einander gegenüber wiederfinden.
So nah, dass ich in die Tiefen seiner blaugrünen Augen eintauchen kann und die einlullende Welle der Ruhe spüre, die er allein durch seine Anwesenheit aussendet.
So nah, dass ich einen Schritt nach hinten mache, eine Handlung, die einen schmerzlichen Schatten über seine Miene huschen lässt.
Ich deute auf die Schlüssel und sage: »Die brauche ich eigentlich nicht, weißt du.«
Er mustert mich kurz, ehe er nickt und sie wieder einsteckt.
Das Schweigen hängt so lange zwischen uns, dass ich es unbedingt brechen will. »Hör mal, Jude …«, sage ich.
Doch als sein Blick auf meinen trifft und ich sehe, wie seine umwerfenden seegrünen Augen nur noch ein abgrundtiefes Meer des Verlusts darstellen, weiß ich, dass ich ihm nicht einmal eine kurze Zusammenfassung dessen geben kann, was er wissen muss. Er ist viel zu sehr von seinem Schmerz gefangen, um sich über Haven oder die Drohungen, die sie unbedingt wahrmachen will, den Kopf zu zerbrechen – viel zu niedergeschlagen, um über die besten Methoden zur Selbstverteidigung auch nur nachzudenken.
»Lass … lass dir einfach so viel Zeit, wie du brauchst.
Das wollte ich nur sagen«, murmele ich und sehe zu, wie er sich bewegt, vorsichtig und mit großem Abstand zwischen uns beiden, sorgsam darauf bedacht, jeglichen zufälligen Körperkontakt mit mir zu vermeiden.
Dabei weiß ich, dass er das mehr mir zuliebe tut als für sich selbst. Seine Gefühle für mich haben sich nicht verändert, das steht fest.
»Ach, und Jude …«, rufe ich ihm hinterher und registriere, wie schnell er stehen bleibt, auch wenn er sich nicht umdreht. »Sei vorsichtig da draußen … bitte.«
Er nickt. Das ist seine ganze Antwort.
»Irgendwann, wenn sich alles wieder ein bisschen beruhigt hat und du mal Zeit hast, müssen wir wirklich dringend …«
Er wartet nicht einmal ab, bis ich zu Ende geredet habe, sondern geht bereits den Flur entlang.
Er tut meine Worte mit einem knappen Winken ab, während er durch den dunklen Laden geht und ins Tageslicht hinaustritt, wo er im warmen Sonnenschein verschwindet.
NEUN
U m sieben Uhr habe ich endlich den letzten Kauf in die Kasse eingetippt und die Tür abgeschlossen. Ich sitze mit hochgelegten Füßen im Hinterzimmer und sehe auf meinem Handy-Display, dass Sabine sage und schreibe neun Nachrichten hinterlassen hat. In jeder davon fragt sie, wo ich bin, wann ich zurückkomme und welche Erklärung ich wohl dafür vorbringen möchte, dass ich ihre Regeln in so offensichtlicher Weise verletze.
Und obwohl ich ein schlechtes Gewissen dabei habe, rufe ich sie nicht zurück. Ich stelle einfach mein Telefon ab, stopfe es wieder in die Tasche und lasse zugunsten von Sommerland alles sausen.
Ich trete durch den schimmernden Schleier aus goldenem Licht und lande direkt vor den Stufen zu den Großen Hallen des Wissens, in der Hoffnung, dass alles klappt und ich die Antworten bekomme, die ich brauche.
Mit stockendem Atem stehe
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