Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
darstellt.
Ich spähe erneut zu ihm hinüber, studiere seine verschwommene Aura, den leeren Blick und die erschütterte Miene – so ganz anders als der süße, coole, sexy Surfer-Boy, als den ich ihn kennen gelernt habe. Zwangsläufig drängt sich mir die Frage auf, wie lange er brauchen wird, um dazu
zurückzukehren, oder ob er es überhaupt schafft. Es gibt keine Schnellkur gegen Kummer. Keine Abkürzungen, keine einfachen Lösungen, keinen Weg, ihn auszulöschen. Nur die Zeit schafft das, und auch die nur mit Mühe. Auch wenn ich sonst nichts gelernt haben sollte, das hat sich mir eingeprägt.
»Dann, etwa eine Stunde später«, fährt er fort – mit so leiser Stimme, dass ich mich vorlehnen muss, um ihn zu verstehen – »habe ich den Anruf bekommen, der es bestätigt hat.« Er lehnt sich zurück und sieht mich an.
»Es tut mir so leid«, sage ich, obwohl ich aus erster Hand weiß, wie klein diese Worte angesichts von etwas so Großem sind. »Kann ich irgendetwas für dich tun?« Ich bezweifle es, mache das Angebot aber trotzdem.
Er zuckt die Achseln und beschäftigt sich mit seinem Ärmel. Mit seinen langen, schlanken Fingern rollt er den nassen Stoff weg von seiner Haut. »Täusch dich nicht, Ever, ich trauere um mich, nicht um Lina. Ihr geht es gut … sie ist sogar glücklich. Du hättest sie sehen sollen – es war, als bräche sie zum aufregendsten Abenteuer ihres Lebens auf.« Er streicht sein Haar glatt, fasst die gesamte Mähne zusammen und hält sie kurz so, ehe er sich die ganze Pracht wieder über den Rücken fallen lässt. »Ich werde sie wirklich vermissen. Ohne sie fühlt sich alles so leer an. Sie hat mir mehr elterliche Liebe gegeben als meine leiblichen Eltern. Sie hat mich aufgenommen, mir etwas zu essen und anzuziehen gegeben, doch das Wichtigste war, dass sie mich mit Respekt behandelt hat. Sie hat mir beigebracht, dass meine Fähigkeiten nichts sind, wofür ich mich schämen oder was ich mühsam verbergen muss. Sie hat mich davon überzeugt, dass es eine Gabe ist – kein Fluch –, und ich mir von der Engstirnigkeit und den Ängsten anderer Leute nicht vorschreiben
lassen soll, wie ich lebe, was ich tue und wie ich mich selbst in der Welt erfahre. Sie hat mich davon überzeugt, dass die stromlinienförmigen Ansichten der anderen mich in keiner Weise zu einem Freak machen. Hast du eine Ahnung, wie viel mir das bedeutet hat?«
Er fixiert mich so lange mit seinem Blick, dass ich einfach wegsehen muss. Seine Worte erinnern mich schlagartig an Sabine und daran, dass sie genau den entgegengesetzten Ansatz gewählt hat, als sie mich kritisiert hat.
»Du kannst dich glücklich schätzen, sie gekannt zu haben«, sage ich, während meine Kehle ganz heiß und eng wird, bis ich das Gefühl habe, es schnürt mir den Hals zu. Ich weiß nur zu gut, wie es ihm geht. Der Tod meiner eigenen Familie ist nie weit weg von meinen Gedanken. Aber ich kann mir nicht erlauben, darüber nachzusinnen – die nächste Krise ist im Anzug, und ich muss all meine Energie darauf konzentrieren, sie aufzuhalten.
»Aber wenn du es ernst meinst, dass du mir helfen willst …« Er zögert kurz und wartet meine Bestätigung ab, ehe er fortfährt. »Tja, würdest du vielleicht auf den Laden aufpassen? Ich meine, mir ist schon klar, dass du nicht mehr hier arbeiten willst, und glaub mir, ich weiß, wie wütend du neulich auf mich warst, und ich bilde mir keine Sekunde lang ein, dass das jetzt deswegen sofort anders wird, aber …«
Ich schlucke heftig. Schlucke meine Worte, da ich keine echte Wahl habe, sondern warten muss, was er sagen wird. Ich bin nicht nur hierhergekommen, um über Haven zu reden und darüber, wie er sich vor ihr schützen kann, sondern auch um herauszufinden, was er eigentlich an dem Abend, als er Roman getötet hat, wirklich beabsichtigt hat.
Was hat er gedacht?
Was ist der wahre Grund dafür, dass er getan hat, was er getan hat?
Doch jetzt, nach allem, was passiert ist, wird es wohl kaum in absehbarer Zeit zu einem Gespräch darüber kommen.
»Es ist nur …« Er schüttelt den Kopf, wendet sich ab und blinzelt irgendwohin in weite Ferne. »Es gibt einfach so vieles, worum ich mich kümmern muss – das Haus, der Laden, die Vorbereitungen für die Beisetzung …« Er holt tief Luft und braucht einen Moment, um sich zu fassen. »Ich glaube, ich bin zurzeit einfach ein bisschen überlastet. Und nachdem du ja schon weißt, wie alles hier abläuft, wäre es mir eine große Hilfe, wenn du
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