Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
Blutregen gegen die Wände spritzen lassen.
Doch sie lacht nur, rollt sich auf den Rücken und zupft sich rasch die Scherben aus dem zerfetzten Fleisch. Mit blitzenden Augen sieht sie zu, wie die Wunden verheilen, ehe sie aufsteht, sich abklopft und mich abermals anfunkelt.
»Wie fühlt es sich an, zu wissen, dass du bald stirbst?«, erkundigt sie sich. Ihre Stimme ist rau und heiser und spricht Bände darüber, wie anstrengend das alles für sie ist.
Ich sehe sie nur achselzuckend an. »Keine Ahnung. Sag du’s mir.«
Ich weiche ein Stück zurück und begreife zu spät, dass ich buchstäblich mit dem Rücken zur Wand stehe – wirklich nicht der beste Platz, da ich doch ungehindert agieren muss und genug Raum zur Flucht brauche. Aber ich will ja nur einen Moment lang hierbleiben, nur so lange, bis ich es zur anderen Seite schaffe, wo mein Amulett auf mich wartet. Sobald ich es in Händen halte, hänge ich es mir wieder um den Hals und tue, was notwendig ist, um der ganzen Sache ein Ende zu bereiten.
Sie steht vor mir, die Arme locker herabhängend, mit zuckenden Fingern, breitbeinig und mit leicht gebeugten Knien – bereit, loszustürmen, bereit, loszuschlagen.
Ich nutze den Moment, um sie eingehend zu studieren, ein Gefühl für ihre Energie zu bekommen und zu erraten, wie sie zuschlagen wird. Doch sie ist so völlig von der Rolle, so losgelöst von sich selbst und von allem anderen, dass es ist, als wollte man durch eine Wolke aus weißem Rauschen hindurchsehen – einfach unmöglich.
Als sie dann schließlich losstürmt, mit erhobener Faust, die sie in Richtung auf meinen Magen sinken lässt, hole ich sofort aus, um sie abzublocken.
Ohne auch nur eine Sekunde lang auf die Idee zu kommen, dass sie es sich im letzten Moment anders überlegen könnte.
Ohne auch nur eine Sekunde lang auf die Idee zu kommen, dass eine so durchgeknallte und ausgepowerte Person allen Ernstes ein solches Manöver durchziehen könnte.
Ich erhasche einen kurzen Blick auf den Triumph in ihren Augen, als ihre Faust mit voller Wucht gegen meine Kehle prallt.
Mitten in die weiche Stelle – mein fünftes Chakra –, das Zentrum für mangelhaftes Urteilsvermögen, falsche Verwendung von Informationen und Vertrauen zu den falschen Personen.
Sie schlägt so hart und schnell zu, dass es einen Moment dauert, bis ich begreife, was passiert ist.
Einen Moment, bis mich rasender Schmerz überfällt.
Einen Moment, bis ich meinen Körper verlassen habe und schwebend, taumelnd auf Havens schadenfrohes Grinsen, Judes zusammengesunkenen Körper und die schöne, aber flüchtige Wolke aus blauem Himmel herabblicke, die sich vor mir ausdehnt – ehe alles einschrumpft und in sich zusammenfällt und die ganze Welt schwarz wird.
SECHSUNDZWANZIG
M an sagt doch, dass das ganze Leben an einem vorbeirauscht, wenn man stirbt, nicht wahr?
Tja, das stimmt. Genau so ist es bei mir.
Allerdings nicht beim ersten Mal. Als ich das erste Mal gestorben bin, kam ich direkt ins Sommerland.
Doch dieses Mal, ist es anders.
Dieses Mal sehe ich alles .
Jeden bedeutenden, entscheidenden Moment aus meinem gegenwärtigen Leben, genau wie all die anderen Momente, die davor kamen und gingen.
Die Bilder wirbeln um mich herum, während ich im freien Fall durch einen tiefschwarzen, völlig lichtlosen Raum stürze, ergriffen von einem beängstigenden und zugleich vertrauten Gefühl, und mich daran zu erinnern suche, wann ich es wohl schon einmal empfunden habe.
Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen:
Das Schattenland.
Die Heimat der verlorenen Seelen.
Der ewige Abgrund für Unsterbliche wie mich.
Genau dorthin bin ich unterwegs, und es ist so, wie es war, als ich es durch Damen erlebt habe.
Abgesehen von der Show.
Dem Teil, den er mich nicht hat sehen lassen.
Ich weiß, warum er nach seinem eigenen Ausflug ins Schattenland so verstört war.
Warum er so anders, so demütig und verändert zurückgekommen ist.
Ich falle so schnell, dass ich von einer Art umgekehrter Schwerkraft durchgeschüttelt werde und mich fühle, als würde mir der Bauch durch Schultern und Kopf hindurch explodieren, während sich um mich herum die Bilder entfalten.
Zuerst kommen sie in kurzen Einsprengseln, reine Schnappschüsse von mir in all den Kostümierungen aus meinen früheren Leben, doch je mehr ich mich an das Gefühl, an die Bewegung und die Geschwindigkeit gewöhne, lerne ich, sie zu zügeln, zu bremsen und mich zu konzentrieren. Ich nehme mir ein Bild nach dem
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