Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
Augen schaut, weiß ich es besser. Obwohl meine Silberschnur heil geblieben ist, weiß ich bestimmt, dass ich gestorben bin. Und es gibt nur einen einzigen Grund, warum ich zurückgekehrt bin.
Ich bin über mein schwaches Chakra hinausgewachsen.
In dem Moment, in dem ich die Wahrheit – über mich – über uns – erkannt habe, dem Moment, in dem ich die richtige Wahl getroffen habe, war ich irgendwie wiederhergestellt.
»Sie hat mich mitten in meinen wunden Punkt geschlagen – mein fünftes Chakra –, und dann habe ich alles gesehen.« Ich schaue zu ihm auf, will, dass er es weiß, dass er mich wirklich hört. »Ich habe alles ganz genau gesehen, jeden einzelnen Moment aus allen unseren Leben. Auch die Sachen, die du so unbedingt vor mir verbergen wolltest.«
Er holt tief Luft und sieht mich fragend an – vor allem eine Frage steht groß und dräuend zwischen uns.
Und ich zögere nicht, sie zu beantworten, schlinge ihm die Arme um den Hals und ziehe ihn an mich, wobei ich vage den Energieschleier wahrnehme, der zwischen seinen und meinen Lippen tanzt, während mein Geist mit seinem verschmilzt. Ich schildere ihm alles, was ich gesehen habe und was ich jetzt weiß.
Dass ich die einzige echte Wahrheit akzeptiert habe.
Dass ich nie wieder an ihm zweifeln werde.
Wir bleiben so, unsere Körper dicht aneinandergepresst und uns intensiv des Wunders bewusst, das soeben geschehen ist.
Ich bin mehr als nur wiedergeboren worden – ich bin wirklich und tatsächlich neu erwacht.
Im nächsten Moment löse ich mich von ihm und stelle
ihm nur mit den Augen eine Frage, die er postwendend beantwortet. »Ich habe deine Notlage gespürt«, sagt er. »Ich bin hergekommen, sobald ich konnte, nur um den Laden verwüstet und dich … quasi tot vorzufinden. Aber es hat nicht lange gedauert, bis du zurückgekehrt bist – auch wenn es dir sicher wie eine Ewigkeit vorkam. So funktioniert das Schattenland.«
»Und Jude?« Mir sinkt das Herz in die Magengrube, während ich mich hektisch im Raum umsehe und ihn nicht entdecken kann.
Ich verliere jede Hoffnung, als Damen mir in düsterem Tonfall antwortet: »Jude ist nicht mehr da.«
ACHTUNDZWANZIG
D as Erste, was ich bei unserer Ankunft sehe, ist so ziemlich das Letzte, was ich erwartet hätte.
Die Zwillinge.
Romy und Rayne Seite an Seite – Romy von Kopf bis Fuß in Pink und Rayne von Kopf bis Fuß in Schwarz. Den beiden klappt gleichzeitig der Unterkiefer herunter, sowie sie mich sehen.
»Ever!«, kreischt Romy, läuft auf mich zu und fällt mir um den Hals, wobei ihr magerer Körper gegen mich prallt und mich fast umwirft, ehe sie die dünnen Ärmchen um mich schlingt und mich festhält.
»Wir waren sicher, dass du im Schattenland festsitzt«, sagt Rayne und blinzelt kopfschüttelnd gegen ihre Kummertränen an. Sie tritt vor und stellt sich stumm neben ihre Schwester, die sich nach wie vor an mich klammert. Und gerade, als ich mir sicher bin, dass sie das Ganze mit irgendeinem bissigen Scherz überspielen wird, irgendeiner spöttischen Spitze darüber, wie enttäuscht sie ist, dass ich heil wieder herausgekommen bin, sagt sie etwas ganz anderes. »Ich bin ja so froh, dass wir uns geirrt haben.« Dabei ist ihre Stimme dermaßen brüchig, dass sie die Worte kaum herausbringt.
Da ich das Friedensangebot auf den ersten Blick als solches erkenne, lege ich den Arm um sie, wobei ich erstaunt bin, dass sie es zulässt und sich sogar an mich schmiegt.
Sie erwidert meine Umarmung nicht nur, sondern bleibt viel länger darin, als ich je erwartet hätte. Erst nach einer Weile macht sie sich los, räuspert sich, kämmt sich mit den Fingern die rasiermesserscharf geschnittenen Ponyfransen und wischt sich mit ihrem langen Baumwollärmel die Nase.
Und obwohl ich darauf brenne, zu erfahren, wie sie hierhergekommen sind, muss das fürs Erste zurückstehen. Es gibt wesentlich drängendere Probleme.
Allerdings komme ich gar nicht dazu, sie anzusprechen, denn die Zwillinge nicken viel sagend mit den Köpfen und ergreifen das Wort. »Er ist da«, sagen sie, wenden sich um und zeigen auf die Großen Hallen des Wissens direkt hinter ihnen. »Er ist bei Ava. Es ist alles gut.«
»Dann ist er also … wieder geheilt?« Meine Stimme bricht, während ich hoffe, dass sie das gemeint haben, was sie mir zu meiner enormen Erleichterung sofort bestätigen. »Und ihr? Wohnt ihr jetzt wieder hier?«
Sie sehen einander an, mit unverändert finsteren Mienen, die indes schnell von wackelnden Schultern
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