Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
einer gemacht worden war. »Stimmt. Ich meine, ja, das bin ich tatsächlich. Und ja, du kannst ein bisschen neben mir laufen.«
»Danke.« Sie schob ihren Arm unter meinen, als wären wir schon unser ganzes Leben lang Freundinnen. Ihr Körper bebte, und ich war mir nicht sicher, ob das an der Kälte lag oder ob sie vor irgendetwas Angst hatte. »Dieser Kerl lässt mich schon den ganzen Abend lang nicht in Ruhe. Vielleicht habe ich mehr Glück, wenn er glaubt, ich hätte eine Freundin getroffen.«
»Eigentlich bin ich gleich mit jemandem verabredet.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, wurde ihr Lächeln flatterig und gab den Blick auf die darunterliegende Einsamkeit preis. Ich dachte an Ranulf und eine Handvoll anderer Verlorener in der Evernight-Akademie, und ich hatte Mitleid mit ihr. »Aber ich kann dich wenigstens aus der Innenstadt heraus begleiten.«
»Oh, wärst du so nett? Ich danke dir. Was für eine Erleichterung. Habe ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht. Falls ja, tut es mir leid.«
»Ist schon in Ordnung.« Sie hatte etwas so Kindliches an sich, dass ich überrascht war festzustellen, dass sie etliche Zentimeter größer als ich war und beinahe an Balthazar herangereicht hätte. »Ist alles in Ordnung mit dir? Gibt es jemanden, den wir anrufen könnten?«
»Alles in Ordnung. Mir geht es gut. Ich bin heute allein unterwegs.«
Ich sah zu meinem Unterarm hinunter, auf dem ihre Hand ruhte. Ihr abgewetztes Sweatshirt war so lang, dass man von ihren Händen nur die Fingerspitzen sehen konnte. Ihre Nägel waren dreckig und rissig, beinahe so, als hätte sie in der Erde gewühlt. Mit einem Schlag wusste ich, dass das Mädchen die einsamste Person war, die ich je getroffen hatte.
Zuerst folgte sie mir kommentarlos und augenscheinlich ohne eigenen Willen. Wir drängten uns durch die riesige Traube von Studenten, die sich vor einer Pizzeria gebildet hatte. Anscheinend war dies der beliebteste Treff, wenn man Lust auf ein Stück Pizza hatte, denn mehr als hundert junge Leute standen draußen herum und hielten Pizzakartons und Bier in Plastikbechern in den Händen. Einige Jungs starrten uns an, wobei die Blicke wohl eher auf der blonden Vampirin an meiner Seite ruhten als auf mir. Trotz ihrer Jugend und ihres nachlässigen Auftretens war sie von einer unwirklichen, unschuldigen Schönheit, und ihre braunen Augen suchten die Masse ab, als sehnte sie sich nach irgendjemandem, der sich um sie kümmern würde. Ich konnte mir denken, wie anziehend das auf Jungs wirkte.
Erst als wir den Betrieb hinter uns gelassen hatten, fragte sie: »Wohin gehst du?«
»Zum Bahnhof.«
»Der ist nur ein paar Häuserblocks entfernt.« Die Vampirin warf einen besorgten Blick über ihre Schulter. Wie sie in diesem Menschengewühl irgendetwas erkennen konnte, wusste ich nicht, aber ihr Körper spannte sich mit einem Mal an. »Ich glaube, er steckt immer noch da hinten. Kann ich dich nicht zum Bahnhof begleiten? Bitte! Da ist es dunkler, und ich kann mich unbemerkt davonschleichen, das weiß ich.«
Eigentlich wollte ich selbstsüchtig sein und ablehnen. Lucas konnte jede Sekunde auftauchen, und ich wollte keine Begleitung am Hals haben, wenn wir uns endlich wiedersahen. Lucas würde auch nicht eben erfreut sein, eine weitere Vampirin zu treffen, denn ich war die einzige, der er vertraute. Es blieb die Hoffnung, dass er sie gar nicht als Vampirin erkennen würde, aber wenn ich an seine Ausbildung beim Schwarzen Kreuz dachte, schied diese Möglichkeit aus. Aber das Mädchen sah so ängstlich aus, dass ich es nicht über mich brachte, ihre Bitte abzuschlagen. »Okay, klar. Lass uns gehen.«
Arm in Arm setzten wir unseren Weg durch die Innenstadt fort. Aus jeder Bar dröhnte so laute Musik, dass die verschiedenen Beats zu einem einzigen zu verschmelzen schienen.
»Lass mich raten.« Sie warf mir einen schüchternen Seitenblick zu. »Evernight, stimmt’s?«
»Ja. Warst du auch mal dort?«
»Ich habe es mal ausprobiert. Aber die Schulleiterin, tja, mochte mich wohl nicht sonderlich. Mrs. Bethany hieß sie. Ist sie immer noch da?«
»Als ob sie je ihr Königreich verlassen würde«, murmelte ich.
»Wie wahr. Aber ich war ihr völlig egal. Das hat alles für mich sehr schwierig gemacht.«
»Bist du auch weggelaufen? Ich habe es mal getan.« Ich lächelte. »Aber nur für ein Wochenende.«
»Ich glaube, ich könnte nie mehr zurück. Nicht, ehe …« Ihr Blick wurde glasig, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Wie dem auch
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