Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Menschenmenge abzuschütteln. Aber Lucas sträubte sich und steuerte in die entgegengesetzte Richtung, um die ruhige Wohngegend rings um den Bahnhof zu erreichen.
»Da ist niemand unterwegs, Lucas, und wir sind dann ganz allein.«
»Das bedeutet, dass auch niemand zu Schaden kommt.«
»Aber …«
»Ich muss es tun, Bianca. Vertrau mir.«
Wir bogen in eine kleine Straße ein, die links und rechts von großen Häusern im klassischen Neuengland-Stil gesäumt wurde. Große Familienautos und Geländewagen parkten in jeder Auffahrt, und die Fenster nach vorne raus waren alle erleuchtet. Fast überall war das Flackern von Fernsehbildschirmen zu sehen. Mit jedem Schritt steigerte sich mein Bedürfnis, um Hilfe zu rufen, doch ich wusste sehr wohl, dass ich damit nur die Leute in Gefahr bringen würde. Wenn sie nach draußen kämen, um zu sehen, was los war, wäre die Chance groß, dass sie in den gefährlichen Kampf verwickelt werden würden, der nun unausweichlich schien. Lucas und ich waren auf uns allein gestellt.
»Er ist nicht das, was du glaubst!«, rief eine dünne, zitternde Stimme, die für meinen Geschmack nicht mehr annähernd weit genug hinter uns war. »Er gehört zum Schwarzen Kreuz. Du musst verschwinden.«
O verflucht , dachte ich. Sie jagt uns, weil sie versucht, mich zu retten.
»Lucas, wir müssen das nicht tun!« Ich bekam kaum noch Luft. Wir konnten beide beinahe unnatürlich schnell rennen - viel ausdauernder als die meisten Menschen -, aber die Vampirin war noch schneller. »Lass mich einfach nur mit ihr reden.«
»Sie wird sich durch dein Reden nicht aufhalten lassen!«
Lucas ging noch immer davon aus, dass alle Vampire gefährlich waren, und in diesem Fall konnte er sogar recht haben. Dieses Mädchen war mächtig, und was noch viel schlimmer war: Sie hatte Angst. Wenn sie Lucas meinetwegen verletzen würde, dann würde ich mir das nie verzeihen.
Lucas zog mich nach rechts, wir bogen um eine Ecke, und da wurde mir klar, dass er versuchte, die Vampirin abzuschütteln. Doch der Plan ging nicht auf. Die Schritte auf dem Bürgersteig hinter uns kamen immer näher und näher. Mir lief der Schweiß über den Rücken.
»Ich werde sie weglocken.« Lucas umfasste meine Hand kräftiger. »Zähl bis drei, und dann tauchst du hinter dem nächsten Auto ab. Verstanden?«
»Lucas, ich werde dich nicht allein lassen.«
»Ich kann Hilfe holen. Aber du musst in Sicherheit sein. Eins, zwei …«
Es blieb keine Zeit mehr für Widerspruch. Mit einer Armbewegung stieß er mich an den Rand der Straße, und ich suchte hinter einem Auto Schutz. Dabei rutschte ich über den Boden und riss mir die Handflächen und die Knie auf, aber ich schaffte es, mich hinter einen größeren Lieferwagen zu rollen und hinter den Reifen zu verstecken.
Einige Sekunden lang herrschte Stille. Ich kann Hilfe holen , hatte ich Lucas’ Worte im Ohr. Das Schwarze Kreuz war auf der Jagd. Das bedeutete, dass er eine Menge Unterstützung ganz in der Nähe hatte. Ohne mich würde er eine Chance haben. Ich wurde etwas ruhiger und tröstete mich mit dem Wissen, dass ihm nichts geschehen würde. In diesem Moment tauchte das Vampirmädchen neben mir hinter dem Lieferwagen auf.
Vielleicht hätte ich nach Lucas rufen sollen, aber ich wollte sie nicht verraten.
Sie griff mich nicht an, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet. Stattdessen streckte sie mir die Hand mit den rissigen, schmutzigen Fingernägeln entgegen. »Wir müssen verschwinden«, sagte sie. »Du weißt ja nicht, wer er ist.«
»Ich weiß, dass er zum Schwarzen Kreuz gehört. Er wird mir nichts tun, aber er will mit Verstärkung zurückkommen. Wir müssen fort von hier.«
Voller Entsetzen schüttelte sie den Kopf und starrte mich an. »Du bist ja wahnsinnig. Er ist der Feind.«
»Mit mir ist alles in Ordnung«, beharrte ich. »Du bist diejenige, die in Gefahr ist.«
Sie ließ die Hand sinken, legte den Kopf schräg und blickte ungläubig. In dieser Haltung sah sie wie ein zerbrochenes Spielzeug aus, und ich hatte das seltsame, doch eindeutige Empfinden, dass ich ihre Gefühle verletzt hatte. Nach einer langen, ungemütlichen Sekunde sprang sie auf und rannte los, und schon war sie verschwunden, so rasch, dass ich keinen Laut auf dem Straßenpflaster gehört hatte.
Kaum war sie fort, rief ich: »Lucas?« Keine Antwort. »Lucas?«
Vom Ende der Straße her ertönten Schritte. Ich stand auf und sah Lucas auf mich zurennen. Mit wedelnden Armen bedeutete er mir, ich solle mich
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