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Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung

Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung

Titel: Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Gray
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sei.«
    Als wir aus der Innenstadt zum Bahnhof liefen, kam Wind auf, und der Körpergeruch des Mädchens stieg mir in die Nase. Das allein hätte mir nichts ausgemacht - ich schätze, jeder gerät mal ins Schwitzen -, aber im Verbund mit allem anderen empfand ich Mitleid mit ihr. Sie schien sich kaum um sich selbst kümmern zu können. Wie schrecklich musste es gewesen sein, Ewigkeiten lang so einsam zu leben und sich immer mehr von der Zivilisation zu entfernen.
    Zum ersten Mal begriff ich - begriff ich wirklich und wahrhaftig -, warum die Vampire eine Schule wie die Evernight-Akademie brauchten. Ich hatte immer gewusst, dass wir den Hang hatten, uns in der sich rasch verändernden Welt zu verlieren, und meine Eltern warnten mich immer wieder davor, eines Tages aufzublicken und festzustellen, dass die eigene Kleidung schon seit Jahrzehnten aus der Mode war. Sie sagten ständig, es gehe ganz schnell, nichts mehr davon mitzubekommen, was in der Welt geschah, und sich auch nicht dafür zu interessieren. Aber ich hatte nie richtig verstanden, wie das aussehen oder sich anfühlen könnte, sich so von der Umwelt zu entfremden. Doch als ich dieses Mädchen betrachtete, wusste ich endlich, was Mom und Dad gemeint hatten.
    Der Bahnhof lag nur einige Blocks von der Innenstadt entfernt, aber der Weg kam mir länger vor. Das lag vor allem am Kontrast zwischen dem Lärm und dem hektischen Treiben der von Studenten bevölkerten Innenstadt und der Totenstille in der Nachbarschaft ringsum. Hier gab es auch weniger Straßenlaternen, sodass es insgesamt viel dunkler war. Meine neue Begleiterin sagte keinen Ton mehr. Offenbar war sie vollauf zufrieden damit, schweigend in meiner Nähe zu bleiben.
    Ich sah auf die Uhr: fünf Minuten vor Mitternacht.
    Das blonde Vampirmädchen öffnete mit größter Vorsicht die Tür zum Bahnhof, als witterte sie einen verdeckten Sprengsatz. Was wenig wahrscheinlich war bei einem Bahnhof mit nur einer einzigen Halle, die noch dazu kaum mehr als eine Hütte neben den Gleisen war. »Niemand zu Hause. Dein junger Mann ist wohl noch nicht da.«
    »Sieht ganz danach aus.« Enttäuscht ließ ich den Blick durch das Bahnhofsgebäude wandern. Irgendwie hatte ich gehofft, dass es ein schöner Raum wäre oder doch zumindest ein ganz kleines bisschen behaglich. Natürlich wusste ich, dass Bahnhöfe für ein Wiedersehen nicht romantisch genug aussehen konnten, aber ein bisschen mehr als das hier hätte ein solcher Ort für meinen Geschmack schon hermachen können. Zerkratzter Linoleumboden, schwaches Neonlicht an der Decke und einige Bänke aus hartem Holz, die an die Wand geschraubt waren: Das war nicht gerade der passende Schauplatz für meine Träume.
    Aber was zählte das schon? Würde irgendetwas eine Rolle spielen? Ich wusste, dass ich bald wieder mit Lucas zusammen sein würde, schon in wenigen Minuten, und wenn wir uns erst wiedersähen, würde nichts anderes mehr von Bedeutung sein.
    Aber was ist, wenn er nicht genauso empfindet? Sein Brief war so erstaunlich gewesen, aber wir hatten uns trotzdem seit Monaten nicht gesehen. Was, wenn sich die Dinge zwischen uns geändert hatten? Wenn es steif und komisch zwischen uns sein würde? Was, wenn seine Gefühle für mich nicht mehr die gleichen waren?
    »Du musst so glücklich sein.« Die Vampirin hatte sich auf einer Bank zusammengekauert und ihre Knie an die Brust gezogen. Mit ihren kaputten Fingernägeln trommelte sie auf dem weißen Fleisch ihrer Unterschenkel. An einem ihrer Schuhe löste sich die Sohle. »So glücklich, dass du jetzt nicht mehr alleine bist. Manchmal denke ich, ich müsste vergehen, wenn ich für immer allein sein müsste.«
    Meine Antwort kam mir komisch vor, aber ich musste es einfach aussprechen: »Nimm es mir nicht übel, aber ich wäre jetzt gerne allein. Wir haben uns eine ganze Weile schon nicht mehr gesehen.«
    »Zeit nur für euch.« Ihr Lächeln war schüchtern und ein bisschen traurig. Ich wollte mich dafür entschuldigen, sie allein zu lassen, aber was blieb mir anderes übrig? Die einzige Alternative wäre, ihr anzubieten, mit mir zurück nach Evernight zu kommen, und was sie darüber dachte, hatte sie ja schon sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Wer konnte sie dafür verurteilen, dass sie Mrs. Bethany verabscheute? Als ob sie mein schlechtes Gewissen gespürt hätte, sagte sie: »Ich verstehe das wirklich. Ich hatte nur noch eine Weile warten wollen, um zu sehen, ob … Aber okay.«
    Ich hörte Fußstapfen draußen auf dem

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