Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Kellergeschoss befindet sich doch auch meistens die Leichenhalle, stimmt’s?«, flüsterte ich.
»Du wirst doch wegen toter Leute keinen Aufstand machen, oder?« Lucas ging den Korridor hinunter und spähte in jeden Raum. »Du gehst jeden Tag mit welchen zur Schule.«
»Ich habe keinen Aufstand gemacht.« Ich hatte nachgedacht.
Die Blutspendestation war geschlossen, was um diese Uhrzeit früh am Morgen wenig überraschend war. Die Tür daneben aber war gewaltsam geöffnet worden.
»Bingo.« Lucas legte eine Hand auf das breite Messer an seinem Gürtel.
Wir betraten die Blutbank, die im Grunde ein großer Raum voller Gefrierschränke war. Einige Mikroskope und verschiedene medizinische Geräte waren an einer Wand aufgereiht, vielleicht um Tests durchzuführen, aber dieses Zimmer diente ganz augenscheinlich vor allem als Lagerraum. In einer Ecke befanden sich eine Reihe großer Eisschränke. Die Tür zu einem davon stand offen; im Innern konnte ich jede Menge Blutkonserven sehen. Vermutlich war das der Sofortvorrat für Notfalltransfusionen. Die Plastikbeutel lagen durcheinander, einige von ihnen waren auf den Boden gefallen, und mehrere waren aufgerissen und geleert worden. Blutstropfen und Schmierspuren waren überall auf dem Boden zu sehen, wo sie feucht glänzten.
»Das Blut ist noch nicht getrocknet«, sagte ich. »Sie war noch vor nicht allzu langer Zeit hier.«
»Tja, und nun ist sie verschwunden«, sagte Lucas. »Verdammt.«
»Vielleicht auch nicht. Vielleicht wollte sie sich danach irgendwo ausruhen.«
»Ausruhen?«
»Auch Menschen mögen manchmal ein Nickerchen, wenn sie üppig gegessen haben. Außerdem war sie erschöpft, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Als wäre sie schon seit Tagen auf der Flucht. Wenn das der Fall ist und sie gerade die Gelegenheit hatte, etwas zu sich zu nehmen, dann wird sie ruhig und friedlich sein. Und wir werden mit ihr sprechen können.«
»Wir müssen absolut sicher sein, dass sie harmlos ist, ehe wir sie gehen lassen«, sagte Lucas. »Es ist nicht so, dass ich deinem Urteil nicht trauen würde. Wir sollten nur … ganz sichergehen, okay?«
»Dann werden wir also mit ihr sprechen.« Ich war zuversichtlich, dass Lucas sehr schnell das in ihr erkennen würde, was auch ich gesehen hatte, nämlich wie verloren und einsam sie in Wahrheit war. »Lass uns anfangen.«
»Du sagst das, als wüssten wir, wo sie sich befindet.«
»Ich denke, das tun wir auch. Sie ist irgendwo, wo sie sich ungestört ausruhen kann. An einem Ort, an dem niemand überrascht wäre, sie zu sehen, wenn man sie fände. Denk doch mal nach, Lucas.«
»O nein.«
»O doch.«
Okay, mag sein, dass ich praktisch mein ganzes Leben lang von toten Menschen umgeben gewesen bin, meine eigenen Eltern eingeschlossen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich die Leichenhalle nicht auch ein bisschen gruselig finde. Ich gerate nicht in Panik oder so, aber dieser Ort hat etwas unglaublich Trauriges: all diese Leben und Gefühle und Hoffnungen, zusammengeschrumpft auf einige dahingekritzelte Schilder an kleinen Eisentüren. Lucas und ich standen einige Sekunden lang im Eingang und nahmen die Umgebung in uns auf. Auf drei langen Tischen längs der Halle lagen drei Leichensäcke. Langsam ging ich näher an sie ran. Der erste war viel zu groß; die Person im Innern musste kräftig gebaut sein. Der letzte war zu kurz. Also standen unsere Chancen beim mittleren Tisch am besten.
Zögernd griff ich nach dem Haken des Reißverschlusses. Er war schwerer, als ich erwartet hatte, und kalt; in der gesamten Leichenhalle war es eisig. Lucas trat an meine Seite und hatte seine breite Klinge einsatzbereit. Ich zog den Verschluss herunter und spürte das Auseinanderschnappen der einzelnen Zähne wie Stöße in meinem Handgelenk.
Ihre Hand schoss aus dem Sack und schloss sich wie ein Schraubstock um meine. Ich kreischte auf, ohne etwas dagegen tun zu können. Lucas machte einen Satz nach vorne, aber ich ließ meinen anderen Arm vorschnellen, um ihn zurückzuhalten.
Die Vampirin setzte sich kerzengerade auf und starrte uns an. Sie sah nicht mehr ganz so blass wie vorher aus, und das rotweinfarbene Mal an ihrer Kehle war weniger auffällig; die Nahrungsaufnahme hatte ihr sichtlich gutgetan. Ihr blondes Haar hatte sie zum Schlafen gelöst, und ihre wirren Locken umrahmten ihr Gesicht. Ihre weit auseinanderstehenden Augen fixierten Lucas, aber ihre Worte waren an mich gerichtet. »Warum hast du ihn hierhergeführt?«
»Er
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