Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
meine Arme um die Knie, stützte mein Kinn darauf und überlegte. Auch wenn ich die Antwort bereits wusste, war es wichtig, sie Lucas so zu vermitteln, dass er sie verstehen konnte. »Ich war noch sehr klein, als meine Eltern mir erklärten, was ich wirklich bin, denn sie taten das sofort, als sie glaubten, ich sei alt genug, um ein Geheimnis zu bewahren. Sie ließen es klingen, als wäre es etwas ganz Besonderes. Ein großes Abenteuer. Ich dachte, es sei wie in einem Märchen, wenn das Mädchen, das den Fußboden fegt, herausfindet, dass es in Wirklichkeit eine Prinzessin ist und dass eines Tages der Prinz kommen wird, um es zu holen. Als wäre das Geheimnis in mir pure Magie.«
Lucas sah aus, als wollte er eine Frage stellen, doch er musste gesehen haben, dass ich um die richtigen Worte rang, denn er beobachtete mich schweigend.
»Aber es kam der Tag, an dem ich begriff, dass es nicht nur Spaß und Magie ist … Ich erkannte irgendwann, dass es auch schlechte Seiten hat, wenn man eine …« Verstohlen sah ich mich um, doch die Abteilung des Buchladens war menschenleer. Trotzdem versuchte ich, das V-Wort zu vermeiden. »… dass es auch schlechte Seiten hat, als mir klar wurde, dass ich zwar nie sterben würde, meine Freunde in Arrowwood jedoch schon. Carrie und Tom und Renee … sie würden alle sterben. Jeder Einzelne von ihnen. Sie würden alt werden und verschwinden, und ich würde allein zurückbleiben. Das machte mir Angst, weil ich verstand, dass mir nur ganz wenige der Menschen, die ich liebte, bleiben würden.«
Sanft legte Lucas mir eine Hand auf die Wange. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und fuhr fort: »Also suchte ich mir etwas, das Bestand haben würde. Etwas, das mir für alle Zeit bleiben würde.«
»Die Sterne«, sagte Lucas. »Du konntest dich darauf verlassen, dass die Sterne immer da sein würden.«
Ich nickte und wusste, dass er alles begriffen hatte. Er nahm mich in seine Arme und hielt mich so fest, dass ich glauben konnte, auch er würde für immer bei mir bleiben.
Am späten Nachmittag fuhr mich Lucas in Kates altem Pick-up-Truck zurück zur Evernight-Akademie. Wir kamen in der Abenddämmerung dort an, aber das Wetter war so trüb, dass es beinahe schon Nacht zu sein schien. Der Nebel, der die Hügel heraufgekrochen war, ließ einen nur wenige Meter weit blicken und hüllte die Welt in ein milchiges Grau. Natürlich konnte mich Lucas nicht am Vordereingang absetzen, und so hielt er an einer Straßenseite am Rande des nahe gelegenen Waldes. Von hieraus wäre es nicht mehr weit für mich, ein Marsch von höchstens zehn Minuten. Ich wusste, dass ich bald auftauchen müsste, wenn ich nicht wollte, dass Raquel Fragen stellte, aber ich blieb so lange, wie es ging, in Lucas’ Armen liegen. Wir küssten uns, bis die Scheiben des Wagens von innen beschlugen, und ich wollte, dass es nie zu Ende gehen würde. Doch ich konnte die Nähe von Evernight spüren, als ob ein Schatten des Gebäudes auf uns fallen würde.
»Ich kann es nicht noch einmal sechs Monate ohne dich aushalten«, murmelte Lucas in mein Haar. »Wir müssen uns bald wiedersehen.«
»Jederzeit. Das weißt du. Du musst mir nur eine E-Mail schreiben … Ich kann dir meine Hotmail-Adresse geben. Dazu hat nicht einmal Mrs. Bethany das Passwort.«
»Das wird nicht gehen. Wir dürfen keine Laptops haben, nichts dergleichen, seitdem wir vor drei Jahren von einigen Vampiren aufgespürt wurden, die etwas vom Computer-Hacken verstanden.« Lucas seufzte. »Ich könnte versuchen, mich irgendwann mal in eine Bücherei zu schleichen, aber ich weiß nie, wann wir unter Abriegelung stehen. Wenn das passiert, denn stecken wir fest und dürfen unter keinen Umständen raus.«
»Und wie sollen wir beide uns dann wiedersehen?«
»Immer, wenn wir uns verabschieden, machen wir ein neues Treffen aus. Dieses Mal überlegen wir uns, wo wir uns beim nächsten Mal sehen. Und bei dieser Verabredung überlegen wir uns was Neues. Egal, was dazwischen passiert. Wir müssen das einfach tun.«
»Ich weiß, dass wir das schaffen. Und der nächste Monat hat schon fast angefangen«, sagte ich. Als Lucas mich verständnislos ansah, knuffte ich ihn gegen die Schulter. »Riverton. Das Riverton-Wochenende von Evernight steht praktisch vor der Tür. Erinnerst du dich nicht mehr?«
»Oh, natürlich, das ist perfekt.« Lucas grinste und war hocherfreut bei diesem Gedanken. Dann zögerte er. »Aber da werden viele Leute sein, die mich erkennen
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