Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
verbargen den Mond und die Sterne, und die Nacht war so dunkel, dass ich glaubte, ich hätte nicht einmal das Häuschen entdeckt, wenn das Dach nicht weiß vom Schnee gewesen wäre.
»Keine Spuren«, flüsterte Lucas, und seine Stimme war so leise, dass sie im Wind und über unseren knirschenden Schritten auf dem vereisten Boden kaum zu hören war. »Entweder war sie heute nicht mehr hier, oder sie ist direkt hierhergekommen, nachdem ich sie gesehen habe …«
»… und ist seitdem nicht mehr rausgegangen.« Balthazar suchte die dunklen Fenster mit den Augen ab, aber ich bezweifelte, dass er selbst mit seiner Vampirsicht etwas erkennen konnte. »Wir werden es herausfinden.«
An der Vordertreppe blieben wir stehen. Balthazar stieg allein empor und legte eine Hand auf die Türklinke. Einige lange Sekunden verharrte er vollkommen reglos, und ich bemerkte, dass ich den Atem anhielt.
Dann stieß er die Tür auf und blieb einen Augenblick im Rahmen stehen, ehe er sagte: »Sie ist nicht hier.«
»Eine Sackgasse.« Lucas trat mit zusammengebissenen Zähnen in eine kleine Schneewehe.
»Das würde ich nicht sagen«, entgegnete Balthazar. »Sieh mal.« Er verschwand zu einer Seite im Raum, aber ich konnte nicht erkennen, was er tat. Plötzlich flackerte eine Kerze auf.
Als Lucas und ich eintraten, sahen wir, dass sich noch vor Kurzem jemand in diesem Haus aufgehalten hatte - jemand, der eine sehr seltsame Vorstellung davon hatte, was es hieß, es sich gemütlich einzurichten. Eine Spitzendecke, die mal wunderschön gewesen sein musste, jetzt aber voller Dreck- und Blutflecken war, war über die Matratze auf dem Fußboden gebreitet. Ein prächtiges, verschnörkeltes Kopfteil eines Bettes aus Bronze lehnte dahinter an der Wand; Spinnen hatten zwischen den Bronzespiralen ihre Netze gebaut. Die Kerze, die Balthazar entzündet hatte, steckte in einem Halter auf einem kleinen Tisch, der mit Wachs in mindestens einem Dutzend verschiedener Farben bedeckt war; unglaubliche Mengen davon waren überall auf der Oberfläche verteilt, an den Tischbeinen hinuntergelaufen und auf den Boden getropft. Eine dunkelrote, ovale Lache von Wachs hatte sich um einen Frauenschuh herum gesammelt, dessen dünner, mit Kristallen besetzter Absatz gefangen worden war, als das Wachs getrocknet war. Leere Ginflaschen lagen auf dem Boden verstreut und stapelten sich in den Ecken, und der Kamin war nicht mit Holz gefüllt, sondern mit Glasscherben, die so hoch aufgetürmt waren, dass es jemand absichtlich getan haben musste. Der Berg funkelte im Kerzenlicht, und in den Glasscherben tanzten in verschiedenen Farben - braun, durchsichtig, blau, grün - verschiedene unwirklich erscheinende Flammen.
»Versteh das nicht falsch, Balthazar«, sagte Lucas, »aber hatte deine Schwester schon immer so einen Knall?«
»Taktvoll wie immer.« Balthazar kniete sich neben den gläsernen Haufen. »Allerdings war da immer etwas … Besonderes an Charity, wenn ich ehrlich bin. Sie ist nicht verrückt und war das auch nie, aber sie war auch nie zufrieden. Stand niemals mit beiden Beinen auf der Erde. Sobald sie wegen irgendetwas oder irgendjemandem aufgebracht war, konnte sie nicht mehr davon ablassen. Es war, als würde sie über nichts anderes mehr nachdenken können, nicht, solange etwas Bestimmtes sie beschäftigte. Ich war der Einzige, der je zu ihr durchdringen konnte, wenn sie so drauf war.«
»Was auch immer jetzt mit deiner Schwester los ist, es ist mehr, als dass sie nur auf irgendetwas zornig ist«, sagte Lucas. »Dieser Platz strahlt für mich nicht eben geistige Gesundheit aus. Außerdem hängt sie mit den falschen Leuten rum, und das ist noch milde ausgedrückt.«
Ich dachte an all die seltsamen Veränderungen, die ich bereits an mir selber gespürt hatte, und daran, wie verstörend sie sein konnten. Wie viel beängstigender musste es sein, ganz und gar verwandelt und von einem Augenblick zum nächsten aus dem Leben in die Leblosigkeit gerissen zu werden? Ich bereitete mich seit meiner Geburt auf den Übergang vor und wusste, dass ich vermutlich selbst den Zeitpunkt dafür würde bestimmen können. Charity dagegen war in einem Stall gefesselt worden, hatte zusehen müssen, wie ihr Bruder gequält wurde, und hatte gewusst, dass ihre Eltern bereits getötet worden waren, und das dürfte mehr als genug gewesen sein, um jeden für alle Zeiten zornig oder instabil werden zu lassen.
Ist es für die meisten Vampire so? , fragte ich mich schaudernd.
»Ich
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