Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
verlange ja nicht von euch, eine Entschuldigung für die Leute zu finden, mit denen Charity ihre Zeit verbringt.« Balthazar konnte den Blick nicht von dem aufgetürmten Scherbenhaufen abwenden.
»Aber ich wette, du willst, dass wir sie trotzdem ungestraft davonkommen lassen«, sagte Lucas.
»Tu nicht so, als ob du Richter und Geschworener in einem wärst. Du bist nichts als das ausführende Organ, und du verurteilst uns auf der Grundlage dessen, was wir sind, und nicht aufgrund unserer Taten.«
»Wieso geht es jetzt plötzlich um mich und nicht mehr um Charitys durchgedrehte Freunde?«
Zuerst wollte ich die Jungs davon abhalten, miteinander zu streiten, aber dann hatte ich das Gefühl, dass es wichtig für die beiden war, diesen Konflikt jetzt offen auszutragen. Je eher sie die gegenseitigen Seitenhiebe einstellten, umso besser wäre es. Ich ignorierte sie einfach und kniete mich neben die Matratze. Einer der Flecken auf dem schmuddeligen Deckbett hatte den Umriss einer Hand.
»Lucas, du hast wohl keine Geschwister, was? Denn ansonsten würdest du dich nicht so schwer damit tun, das hier zu begreifen.«
»Wenn ich Geschwister hätte, die mit der Manson-Familie befreundet wären, dann, glaube ich, wäre ich ganz schön abgetörnt von ihnen und nicht von den Bullen, die Jagd auf sie machen.«
»Tust du immer noch so, als ob du zu den Bullen gehören würdest?«
Ich legte meine Hand über den Blutfleck. Als Charity und ich nebeneinanderher gelaufen waren, hatte sie meinen Arm genommen, und obwohl sie selbst so hochgewachsen war, waren ihre Hände doch noch kleiner als meine eigenen gewesen. Dieser Blutfleck aber war größer, und zwar so eindeutig, dass meine Finger im Vergleich dazu aussahen, als gehörten sie zu einer Kinderhand.
»Sie hat hier nicht allein gewohnt.« Kaum hatte ich das ausgesprochen, hörten Balthazar und Lucas auf zu streiten und starrten mich an, als hätten sie vollkommen vergessen, dass ich auch noch da war. »Seht euch das an. Hier war vor Kurzem noch jemand anderes da. Jemand, der viel, viel größer ist, vermutlich ein Mann.«
Balthazar schien nicht überzeugt, aber Lucas lächelte. »Und du hast es entdeckt. Toll.«
Ich war stolz auf mich und sah mich eifrig im Zimmer um, ob mir noch weitere Beweise für einen zweiten Vampir ins Auge springen würden, aber da war sonst nichts Auffälliges. Die bizarre Anhäufung von Scherben war jedoch unter diesen Umständen noch verstörender. Charity ganz für sich allein war schon seltsam genug, aber man sollte doch meinen, dass jemand anderes - eigentlich ganz gleich, wer - geistig gesünder wäre. Dass er vielleicht für eine gewisse Ordnung sorgen würde. Stattdessen hatte er hier mit ihr inmitten von Verfall gelebt.
Balthazar wiederholte langsam: »Nicht allein.«
»Balthazar, sag mir, was dir mehr Sorgen macht.« Lucas hatte damit angefangen, die Schubladen zu öffnen, doch sie schienen alle leer zu sein. »Dass deine kleine Schwester ein Sexleben hat oder dass ihr Liebhaber offensichtlich Blut schlürft?«
»Denk einfach daran, was ich gerade gesagt habe.« Balthazar stand auf. »Wenn Charity überhaupt irgendjemanden hierher gebracht hat, dann wird sie auch alle anderen hereinlassen. Die ganze Gang. Ihren ganzen Clan.«
»Ihren Clan?« Ich hatte schon häufig vage Andeutungen über Vampir-Clans gehört, und obwohl ich nicht viel darüber wusste, klang das gar nicht gut. Ich hätte die Gang schon viel eher mit der Vorstellung eines Clans in Verbindung bringen sollen. »Du meinst, sie könnten alle hier in der Stadt sein? Jetzt, in diesem Augenblick? Und sich vielleicht auf den Weg zurück gemacht haben?«
Lucas und Balthazar wechselten einen Blick, dann packte mich Lucas am Arm. »Du fährst zurück nach Albion«, sagte er. »Balthazar und ich kommen hier schon allein klar.«
»Wie bitte? Auf keinen Fall; ich will nicht von dir weg.«
»Er hat aber recht«, stimmte Balthazar ihm zu. »Das wird viel gefährlicher, als ich dachte. Du bist keine Kämpferin, Bianca.«
»Ich habe viel dazugelernt.« Ich weigerte mich auch dann, mich von der Stelle zu rühren, als Lucas mich am Ärmel zupfte.
Balthazar schüttelte den Kopf. »Fechtunterricht zählt nicht.«
»Bianca, überleg doch mal«, sagte Lucas. »Wie oft sind Balthazar und ich schon einer Meinung?«
Ich hasste es, aber sie hatten recht. Meine Kräfte würden mit denen eines richtigen Vampirs nicht mithalten können. Die von Lucas auch nicht, aber er war im Kampf ausgebildet
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