Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
worden, seitdem er alt genug zum Laufen war. Wenn sich die Sache hier in einen ernsthaften Kampf mit einer ganzen Gruppe von Vampiren verwandeln würde, hätte ich keine Chance mehr. In diesem Augenblick entschloss ich mich, in Zukunft so viel wie möglich zu lernen, um stark zu werden; nie wieder wollte ich aufgefordert werden, um meiner eigenen Sicherheit willen zu verschwinden.
Aber das war alles Zukunftsmusik. Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als mich tatsächlich vom Acker zu machen.
»Soll ich den Wagen in die Stadt bringen?« Wenigsten s hatte ich gelernt, Auto zu fahren , dachte ich missmutig.
»Die Stadt ist der einzig sichere Ort«, sagte Lucas.
Balthazar nickte. »Lucas soll dich zurückbringen und dann wiederkommen. Und wir sollten lieber alle Spuren verwischen, die verraten könnten, dass wir hier waren.« Er beugte sich vor und blies die Kerze aus. Es war wieder dunkel im Zimmer.
Und in diesem Augenblick bemerkten wir die Helligkeit draußen vor dem Fenster.
»Was …« Sofort brach ich wieder ab. Was auch immer da draußen ein Licht in den Händen hielt - eine Kerze? Eine Taschenlampe? -, sollte mich besser nicht hören. Keiner von uns bewegte sich, und ich strengte mich so sehr an, etwas zu erlauschen, dass ich spürte, wie sich all meine Muskeln anspannten. Lucas’ Hand umklammerte meinen Unterarm. Er und Balthazar tauschten Blicke. Dann legte Balthazar eine Hand auf die Türklinke und wappnete sich sichtlich für alles, was da kommen mochte; im Schummerlicht konnte ich sowohl Furcht als auch Hoffnung auf seinem Gesicht sehen.
Er öffnete die Tür. Aber nicht etwa zwanzig verrückte Killer sprangen auf uns zu, sondern es war nur ein eisiger Windstoß, der hereinfuhr. Als ich in die Dunkelheit spähte, erkannte ich Charity.
Sie trug zwei Stiefel, die nicht zueinander passten, und einen langen, fadenscheinigen Mantel aus grauer Wolle, der an Dutzenden Stellen genäht oder mit Flicken ausgebessert worden war. Charitys blondes Haar war offen und wurde ihr vom Wind ins Gesicht geweht. In einer Hand hielt sie eine Taschenlampe; ihre Hände waren nur durch dünne, fingerlose Handschuhe vor der Kälte geschützt. »Balthazar?«, fragte sie mit leiser Stimme, und sie klang mehr denn je wie ein Kind.
»Charity.« Obwohl Balthazar so lange nach ihr gesucht hatte, schien er jetzt außerstande, zu ihr zu gehen, und er wusste ganz offenbar auch nicht, was er sagen sollte. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Sie zuckte mit den Schultern. Ihre dunklen Augen huschten zu Lucas. »Du bist in ganz schön seltsamer Begleitung unterwegs.«
»He, ich bin gerade nicht im Dienst«, rief Lucas mit einem Grinsen auf dem Gesicht. Ich hatte das Gefühl, dass ein Witz zu diesem Zeitpunkt nicht sehr angebracht war, und boxte ihm auf den Arm. Er starrte mich finster an, hielt aber den Mund.
»Ich kann dich verstehen, was dieses Mädchen angeht«, sagte Charity. »Sie ähnelt der armen Jane so sehr.«
Balthazars Gesicht wurde blass. »Sprich diesen Namen nicht aus.«
Wer war Jane?
»Ihr seid mir gefolgt.« Sie machte einen Schritt zurück und ließ den Arm mit der Taschenlampe sinken; jetzt wurden nur noch ihre Füße und der tiefer werdende Schnee auf dem Boden erleuchtet. »Ich will, dass du damit aufhörst.«
»Ich werde es bleiben lassen, wenn du mit mir nach Hause kommst.«
»Nach Hause? Wo ist denn ›zu Hause‹? Wir haben früher hier gelebt, aber das ist lange her.« Charity strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht, und es war eine verlegene Geste, wie sie typisch für Leute ist, die gegen Tränen ankämpfen. »Denk nicht einmal daran, mich zu bitten, dass ich wieder mit nach Evernight komme. Du weißt, was ich von dieser Frau halte.«
Lucas und ich sahen uns an.
Balthazar stieg langsam die Vordertreppe hinunter, und Charity schlitterte einige Schritte durch den Schnee zurück. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich geglaubt, dass sie Angst vor Balthazar hatte. Er sagte: »Wir könnten doch was Neues für dich finden. Einen Platz für uns beide. Alles, was zählt, ist, dass wir zusammen sind. Charity, ich vermisse dich.«
Sie starrte auf den eisigen Boden hinab. »Ich vermisse dich überhaupt nicht.«
Das traf Balthazar so tief, dass er zusammenzuckte. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, was der einzige Trost war, den ich ihm anbieten konnte. Lucas beobachtete mich, sagte aber nichts.
»Du weckst zu viele Erinnerungen«, sagte Charity. »Du erinnerst mich wieder daran, wie
Weitere Kostenlose Bücher