Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
selber acht.«
Aber wie sollte ich das tun?
An diesem Abend ging Lucas fort, um etwas einzukaufen, und er kehrte in Rekordzeit zurück, warf die Papiertüten auf den Tisch und schien sie im gleichen Augenblick vergessen zu haben. »He«, sagte er. »Konntest du einen Blick in dein Buch werfen?«
»Ein bisschen.« Er hatte eine Taschenbuchausgabe von Jane Eyre gefunden und sie für mich gekauft, aber mir war zu schwindelig, und ich fühlte mich selbst zum Lesen zu schwach. Die schwarze Schrift auf den weißen Seiten schien mir in den Augen zu brennen.
Lucas nickte und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Ich fragte mich, ob er sich deshalb dorthin setzte, weil er mehr Abstand zu mir haben wollte, als es der Fall gewesen wäre, wenn er zu mir aufs Bett gekommen wäre, oder weil er mir so besser ins Gesicht schauen konnte. Er saß dort und starrte auf den Boden, die Unterarme auf die Knie gestützt. Ein Fuß scharrte auf dem Fußboden hin und her und verriet die Anspannung, die Lucas ansonsten so angestrengt zu verbergen suchte.
»Was auch immer du sagen willst«, flüsterte ich, »spuck es einfach aus.«
»Ich habe heute einen Brief an Balthazar abgeschickt«, sagte Lucas. »Und ich habe auch eine E-Mail an Vic geschrieben und ihn gefragt, ob es irgendwie möglich wäre, dass er nach Hause kommt und eventuell sogar Ranulf mitbringt. Vielleicht taucht einer von ihnen bald auf und weiß, was zu tun ist.«
Vic würde nicht in der Lage sein zu helfen, und ich vermutete, dass Balthazar bereits alle Antworten gegeben hatte, die er kannte. Und was Ranulf anging – nun ja, er war schon eine ganze Weile auf der Welt. Wer weiß also, was er in dieser Zeit so alles erfahren und gelernt hatte? Ich bezweifelte jedoch, dass es einen Ausweg aus dieser Situation gab. Ob es Lucas nun bewusst war oder nicht: Er hatte die Jungs hierherbestellt, weil er Beistand brauchte. »Das ist gut«, sagte ich.
Lucas schüttelte den Kopf. »Ich hätte dich nie aus Evernight wegbringen dürfen.«
»Wie kannst du das nur sagen?« Ich versuchte, mich aufzurichten, aber der Schwindel war stärker. Also stützte ich mich nur mit einem Arm auf. »Ich wollte fort. Ich war diejenige, die dich gefragt hat.«
»Es hätte keine Rolle spielen dürfen, selbst wenn du mich angefleht hättest. Ich hätte es trotzdem nicht tun dürfen.« Er fuhr sich mit seinen Fingern durch das bronzefarbene Haar, als wollte er es sich raufen. »Deine Eltern wussten, was geschehen würde. Sie haben dich angelogen? Und wenn schon. Wenigstens hätten sie gewusst, was zu tun wäre. Wenigstens hätten sie sich um dich kümmern können. Und ich kann das nicht. Mehr als alles auf der Welt will ich dafür sorgen, dass es dir gut geht, und das kann ich nicht.«
»Hör auf. Lucas … Was mit mir passiert … ist Teil dessen, was ich bin. Teil dessen, was zu sein ich geboren wurde. Das alles geschieht nicht, weil wir weggelaufen sind.«
»Aber deine Eltern hätten dafür sorgen können, dass es aufhört.«
»Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass sie versucht hätten, mich dazu zu bringen, eine wahre Vampirin zu werden, und das will ich nicht. Nicht einmal jetzt.«
Lucas ließ sich nicht so einfach trösten. »Du warst auf der Flucht. In Gefahr. Du hattest nicht genug Geld, um zu tun, was du tun wolltest, oder auch nur zu essen, was du essen wolltest. Ich habe dir gesagt, dass ich mich um dich kümmern würde. Und ich habe dich enttäuscht.«
»Du hast mich nie enttäuscht!« Das musste ich ihm begreiflich machen. Das war eines der wenigen Dinge in meinem Leben, bei denen ich mir ganz sicher war. »Diese letzten zwei Monate mit dir waren die besten in meinem ganzen Leben. Selbst mit Charity auf den Fersen, selbst als wir beim Schwarzen Kreuz festsaßen – das alles war es wert, solange wir beisammen waren.«
Er verbarg sein Gesicht in den Händen. »Ich hätte lieber darauf verzichtet, wenn es dir dann jetzt gut ginge.«
»Ich nicht. Es war immer meine Entscheidung, nicht deine. Und ich habe keinen Fehler gemacht.« Als Lucas endlich das Gesicht hob, um mich anzuschauen, lächelte ich ihn an. »Ich würde es wieder tun. Ich würde es hundert Mal wieder machen, ich würde alles noch mal ganz genauso machen, wenn ich bei dir sein könnte.«
Lucas kam zu mir und nahm mich fest in den Arm. In diesem Augenblick gab mir das den Mut, den ich brauchte.
Als ich jedoch mitten in der Nacht aufwachte, war es schon schwerer, tapfer zu sein.
»Halte durch, ja?« Lucas
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