Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
und ließ den Geist vor meinen Augen verblassen. »Lass mich in Ruhe.«
Dann dachte ich an Lucas und zwang mich wieder an seine Seite. Ich komme zurück zu dir, das verspreche ich dir. Ich bin hier.
Der Nebel löste sich auf. Ich fand mich auf einer Lichtung hinter dem Haus der Woodsons wieder, wo ich auf einen kleinen Erdhügel hinabschaute. Balthazar glättete die Oberfläche mit der Rückseite seiner Schaufel, während Lucas neben dem Grab kniete. Ich konnte den Schweiß auf ihrer Haut riechen, den lehmigen Geruch des Bodens und das Sommergras. Der Himmel hatte eine weiche, rosafarbene Tönung angenommen. Ein neuer Tag hatte angefangen. Ohne mich.
Lucas beugte den Kopf, niedergedrückt von seiner Trauer. Ihn dabei zu sehen war mehr, als ich ertragen konnte.
Bitte sieh mich doch, dachte ich. Ich konzentrierte mich auf all das, was ich ringsum sehen und riechen konnte, auf all das, was real und greifbar war. Ich machte mich selbst zu einem Teil dieser Welt. Lucas, bitte sieh mich, bitte, bitte…
»Lucas!«
Die beiden jungen Männer machten einen Satz zurück. »Hast du das gehört?«
Balthazar nickte. »Es … Es klang… Das kann nicht sein.«
Ja! Ich hatte es geschafft. Ich konzentrierte mich noch eindringlicher auf das Hier und Jetzt, und ich legte meine gesamte Willenskraft in die Erinnerung daran, wie sich mein Körper angefühlt hatte. Wie ich ausgesehen hatte. Einen Augenblick lang konnte ich mich wieder spüren – Phantomglieder, Phantomhaare –, und sowohl Lucas als auch Balthazar rangen nach Luft. Sie hatten mich gesehen.
Doch mein Hochgefühl lenkte mich ab, und ich wusste, dass ich praktisch im gleichen Moment vor ihren Augen verblasste. Konnte ich es noch einmal tun? Ich war mir nicht ganz sicher, wie es mir beim ersten Mal gelungen war. Tot zu sein war so anstrengend.
»Balthazar«, sagte Lucas, »bin ich verrückt geworden?«
»Ich glaube nicht.«
»Dann hast du sie auch gesehen?«
»Ja.« Ein Hauch von Verstehen zeichnete sich auf Balthazars Gesicht ab, aber welche Erkenntnis auch immer ihm gerade gekommen war, es schien keine gute zu sein.
»Was ist? Was weißt du, das ich nicht weiß?«
Balthazar begann, neben dem Grab auf- und abzulaufen. »Wenn Bianca geboren wurde, weil einige Geister zwei Vampiren zu Hilfe gekommen sind …«
»Ja«, sagte Lucas.
»… und es eine der Optionen für ihre Zukunft war, eine richtige Vampirin zu werden …«
»Ja«, sagte Lucas. Seine Augen weiteten sich.
»… dann wird ihre andere Option nicht darin bestanden haben … einfach zu sterben … sondern ein Geist zu werden. Das war der Grund, warum die Oliviers so verzweifelt wollten, dass sie die Wandlung vollendet. Die Alternative zum Vampirdasein war für Bianca nie ein Leben als menschliches Wesen. Es war immer eine Existenz als Geist.« Balthazar blinzelte zu der Stelle, an der er und Lucas einen kurzen Blick auf mich erhascht hatten. »Und nun ist sie einer geworden. «
Ich wollte so gerne, dass Balthazar sich irrte, doch unglücklicherweise ergab jedes Wort, das er gesagt hatte, einen Sinn.
»Siehst du.« Der Geist – der andere Geist, sollte ich wohl sagen – schien an meine Seite geglitten zu sein. »Das haben wir dir immer versucht zu sagen.«
Ich erwiderte: »Was meinst du mit immer versucht zu sagen ?«
»Du erinnerst dich nicht?« Sie lächelte triumphierend, und in ihrem Strahlen las ich die Botschaft, die mir in der Evernight-Akademie überbracht worden war, und zwar in Form von Buchstaben, die ins Eis geritzt worden waren: »Unsere.«
21
Also dachten die Geister, sie könnten mich für sich beanspruchen? Nun, da irrten sie sich, und ich war wild entschlossen, es ihnen zu beweisen.
»Ich bin nicht die Eure«, sagte ich zu der jungen Geisterfrau, die vor mir schwebte. Sie trug ein weißes, hauchdünnes Kleid, vielleicht ein altmodisches Nachthemd, und ich fragte mich, ob sie darin gestorben war. Wenn das der Fall war, dann steckte ich für alle Ewigkeit in einem weißen Trägertop und einer blauen Baumwollhose mit kleinen Wölkchen darauf fest. Ich schaute an mir hinunter und erkannte die Schlafanzughose, die ein wenig durchscheinend wie der Rest von mir war, aber definitiv dieselbe. Na toll . »Ich gehöre mir selbst. So sieht es aus.«
»Aber du bist jetzt eine von uns.« Ihr wassergrünes Gesicht leuchtete im weichen Licht der Abenddämmerung. »Sieht du denn nicht, wie viel besser das ist?«
Lucas drehte sich zu Balthazar. »Wenn sie ein Gespenst ist – ein
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