Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
jemand erwartete. Es war Eduardo, der sich gegen einen der Betonpfeiler lehnte. In den Händen hielt er eine Kaffeedose. Ich dachte mir nichts dabei, außer, dass es irgendwie merkwürdig war, sich so spät in der Nacht noch einen Kaffee zu machen. Doch einen Augenblick später fiel Lucas’ Blick darauf, und er sagte: »Die gehört mir.«
»Du hast eine interessante Definition für das, was deins ist.« Eduardo warf die Dose in die Luft und fing sie lässig wieder auf. Die Narben auf seinen Wangen stachen im harten Licht der Deckenleuchten deutlich hervor. »Denn so wie ich die Dinge sehen, haben wir hier beim Schwarzen Kreuz eine Regel. Alles, was wir tun, dient dem Wohl der Gemeinschaft. «
Daraufhin löste Eduardo den Plastikdeckel der Kaffeedose und gab den Blick auf zusammengerollte Geldscheine frei.
»Geld horten«, sagte er. »Inwieweit dient denn das dem Wohl der Gruppe?«
O nein , dachte ich. Lucas’ Ersparnisse. Das Geld, das er benutzen wollte, um uns hier rauszubringen.
»Und inwieweit dient es dem Wohl der Gruppe, in meinen Sachen herumzuschnüffeln?« Lucas’ Augen funkelten, als er auf Eduardo zuging. Seine Stimme war nun lauter und wurde als Echo von den Betonwänden zurückgeworfen. »Was denn? Willst du mich etwa bestehlen?«
Eduardo schüttelte den Kopf. »Es ist kein Stehlen, wenn es von Anfang an gar nicht dir gehört hat. Und genau so ist es. Geld wie dieses sollte für die Zwecke des Schwarzen Kreuzes genutzt werden. Nicht um … die Freundin samstagnachts auszuführen.«
»Seit wann führe ich Bianca denn aus? Seit wann lasst ihr Typen uns denn länger als zehn Minuten allein?«
»Du hast gar keine Freizeit. Du bist ein Soldat, Lucas. Hast du das vergessen?«
»He!« Kate eilte auf sie zu, die Haare noch nass von der Dusche, die Bluse falsch zusammengeknöpft. Wahrscheinlich hatten die anderen sie rasch geholt, um der Sache ein Ende zu bereiten. Eine kleine Menschentraube hatte sich um uns versammelt; offenbar waren die Umstehenden interessiert an dem Streit, wollten aber für niemanden Partei ergreifen. »Was ist denn hier los?«
Lucas hatte die Fäuste geballt.
»Eduardo bestiehlt mich.«
»Lucas hortet Geld.«
»Du hast seine Sachen durchwühlt? Himmel, Eduardo.« Kate riss ihm die Kaffeebüchse aus der Hand, und zum ersten Mal sah ich einen schuldbewussten Ausdruck auf Eduardos Gesicht. »Ich erwarte ja nicht, dass du ein Vater für Lucas bist, aber ich hätte wirklich nicht gedacht, dass du dich wie ein eifersüchtiger kleiner Bruder benimmst.«
» Ich bin nicht derjenige, der sich hier unreif aufführt!«
»O doch, das bist du«, fauchte Kate ihn an. »Und weißt du, warum? Weil ihr beide euch wie pubertierende Vollidioten benehmt. Lucas ist wenigstens ein Teenager. Ist es denn wirklich zu viel verlangt, dass du der Erwachsenere von euch beiden sein solltest?«
»Danke, Mom.« Lucas war rot vor Erleichterung geworden, dass Kate ihm beigesprungen war, und er streckte die Hand aus, um zurückzufordern, was ihm gehörte.
Kate jedoch schloss den Deckel und sagte: »Wir können nicht zulassen, dass Leute Geld horten, Lucas. Das weißt du.«
»Es gehört mir! Wir müssen doch nicht alles aufgeben … Wir haben doch noch nie …«
»Ich sage ja nicht, dass es nicht dir gehört.« Leiser fügte Kate hinzu: »Wenn du es brauchst, kommst du zu mir. Wenn das Schwarze Kreuz zu dem Zeitpunkt darauf verzichten kann, dann gebe ich es dir zurück, das verspreche ich dir. Und ich weiß, dass du es sowieso nicht würdest ausgeben wollen, wenn das Schwarze Kreuz kein Geld erübrigen könnte. Stimmt’s?«
Lucas und ich wechselten einen verzweifelten Blick. Es gab nichts mehr, was wir hätten sagen oder tun können. Ich war mir jetzt sicher, dass das Schwarze Kreuz kein Dienst war, den man so einfach quittieren konnte. Es war mehr wie ein Kult, dem man entfliehen musste.
Und das Geld, das wir für unser Entkommen brauchten, war uns gerade eben gestohlen worden, was bedeutete, dass wir in der Falle saßen.
6
Vielleicht war es der niederschmetternde Schlag, unser gespartes Geld verloren zu haben. Vielleicht war es die fiebrige Aufregung, Lucas wieder nahe gewesen zu sein, nachdem wir so lange getrennt gewesen waren. Oder vielleicht waren es auch der Blutstrom und die süße Erleichterung darüber, nach all diesen Wochen des Hungers endlich einmal wieder richtig satt zu sein.
Was immer es auch war, es lenkte mich in dieser Nacht ab, und ich vergaß, dass Blut zu trinken auch
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