Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
sorgen, und er genoss es, wenn er ein wenig Zuwendung von ihr bekam.
Unsere Patrouille führte uns in eine der schickeren Gegenden der Stadt, wo die niedrigsten Gebäude zwanzig Stockwerke hoch waren und alle Fassaden aus kaltem Stahl oder weißem Stein bestanden. Türsteher in Uniformen waren ungefähr alle zehn Meter entlang der Straße aufgestellt. Die Gehwege wurden von teuren Autos der Art gesäumt, die ich Lucas früher in seinen Zeitschriften hatte bewundern sehen. Zuerst dachte ich, dass diese Gegend zu gut bewacht war, als dass sich hier viele Vampire herumtreiben dürften, doch dann dämmerte es mir, dass diese elegante Umgebung die Vampire an Evernight erinnern würde. Das war die Art von Existenz, die die Vampire anstrebten, und vielleicht war genau dies ein Ort, an dem sie ihr Glück versuchten.
»Wir hatten hier mal eine Basis«, sagte Milos, als er neben mir und Raquel über den Gehweg schlenderte. Er klang beinahe freundlich, was eher seltsam als ermutigend war. »Das waren noch Zeiten, Mann. Wir hatten mit einigen der feinen Restaurants hier in der Gegend einen Deal gemacht. Sie überließen uns, was sie am Ende der Nacht an Essen übrig hatten. Ich hatte mich an Shrimptoasts schon fast überfressen. Und jetzt würde ich meine Großmutter für solche Leckerbissen verkaufen.«
»Was ist passiert?«, fragte Raquel und spähte mit zusammengekniffenen Augen durch die Sommersonne zu ihm hinauf.
»Vampire haben unser Versteck verwüstet.« Milos’ Hand fuhr unwillkürlich an die Stelle unter seinem Gürtel, wo er einen Pflock befestigt hatte. »Normalerweise greifen sie unsere Hauptzellen nicht an – die haben nicht genügend Truppen. Gibt zwar tonnenweise Vampire hier, aber die sind nicht schlau genug zusammenzuarbeiten.«
Das war nicht nur beleidigend, sondern Unsinn. Wie hatten Vampire wohl mehr als zwei Jahrhunderte lang die Evernight-Akademie geführt, wenn sie nicht schlau genug waren, um gemeinsam langfristige Ziele zu verfolgen? Die Wahrheit, so nahm ich an, hatte wohl eher damit zu tun, dass die Vampirgruppen untereinander Kämpfe austrugen. Es gab keine einheitliche Vampirgesellschaft, und das verschaffte einer straff organisierten Vereinigung wie dem Schwarzen Kreuz einen Vorteil.
Raquel fragte Milos: »Was war denn damals anders?«
»Da war dieser eine Vampir – Stigand, wie er sich selber nannte –, der sie dazu gebracht hat, sich zusammenzuschließen. Der war gefährlich.« Ein kaltes Lächeln stahl sich auf Milos’ Gesicht. Er hatte eine andere Einstellung Gefahren gegenüber als die meisten Leute. »Er hat sie uns auf den Hals gehetzt. Haben an jenem Tag eine Menge guter Kämpfer getötet und unser altes Hauptquartier vollkommen zerstört. Eliza aber hat ihn unschädlich gemacht. Hat ihn mit einem Benzinspray erwischt und dann den Flammenwerfer draufgehalten.« Kichernd fügte er hinzu: »Ihr hättet ihn mal schreien hören sollen.«
Mir wurde übel, und ich drehte den Kopf von Raquel und Milos weg. Ich wusste nicht, ob ich meine Abscheu vor ihnen verbergen wollte oder ob ich nur nicht ihre Freude darüber sehen wollte, dass ein Vampir den Tod gefunden hatte.
Zuerst achtete ich nicht auf das, was sich vor meinen Augen abspielte, doch irgendwann setzte sich das Training des Schwarzen Kreuzes durch und zwang mich, die Umgebung und jede Person, die an uns vorbeikam, zu mustern und einzuschätzen.
Und dann wusste ich mit einem Schlag, dass ich den Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite kannte. Ich kannte ihn aus meinem Traum in der vergangenen Nacht.
Jetzt fielen mir auch wieder mehr Details ein. Ich war mit Lucas in einem Kino gewesen, und es war die Art von Traum, die halb einer Erinnerung gleicht – in diesem Fall unserer ersten Verabredung. Aber das Kino war nicht mehr prächtig und plüschüberladen wie damals. Es war heruntergekommen und verschmutzt, die Sitzpolster waren aufgerissen, und auf der Leinwand waren schon lange keine Filme mehr gezeigt worden. Ich hatte mich hektisch nach Lucas umgesehen, stattdessen jedoch nur diesen Mann mit seinen rötlichbraunen Dreadlocks entdeckt.
Der Geist, der neben mir schwebte, hatte geflüstert: Ihr beide habt gemeinsame Freunde .
Im Traum hatte ich nicht gewusst, wer er war. Jetzt aber erkannte ich ihn.
»Da«, flüsterte ich. »Ist das … Ist er … ?«
»Du meinst, ein Vampir?« Raquel starrte ihn höchst interessiert an, Milos ebenfalls.
Mein Herz wurde schwer. Hatte ich gerade einen Vampir an die Jäger
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