Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
verraten? Einen Vampir, der hätte vorübergehen können, ohne dass jemand auf ihn aufmerksam geworden wäre? Hatte ich ihn gerade dem Tode geweiht?
Der Vampir mit den Dreadlocks war jedoch ganz in seinem Element. Er schlenderte unter die dunkelgrüne Markise eines Gebäudes, nickte dem Türsteher zu und trat ein – und war in Sicherheit.
Erleichtert stieß ich die Luft aus, allerdings zu laut. Milos warf mir einen Blick zu. »Du willst keinen Kampf? Dann bist du in der falschen Gruppe.«
»Lass sie in Ruhe«, sagte Raquel. »Für uns ist das alles immer noch ein bisschen beängstigend, okay? Wir werden mit der Zeit schon härter im Nehmen werden.«
»Vielleicht hilft euch das dabei.« Milos starrte weiterhin auf die Tür zu den Wohnungen. »Wir werden hier mal Klarschiff machen müssen. Aber jetzt kümmern wir uns erst mal um die Straßen dahinter. Sehen, wer hier noch herumstrolcht und noch keineswegs bereit ist, nach Hause zu gehen. «
Und so suchten wir weiter die Gegend ab, und zu meiner großen Erleichterung konnten Raquel und ich uns von Milos loseisen. Raquel konnte nicht aufhören zu betonen, wie gewitzt ich doch war, dass ich einfach so einen Vampir erkennen konnte, ohne dass er irgendjemanden angegriffen und ohne dass es irgendwelche Anzeichen gegeben hatte. Ich fühlte mich immer mehr wie eine Verräterin. Verzweifelt suchte ich nach einem anderen Gesprächsthema, und beinahe wahllos fragte ich: »He, wo habt ihr denn gestern gesteckt, als wir zurückkamen? Du hast auf Elizas Ruf nicht reagiert.«
»Oh. Dana und ich waren …«
»Waren was?«
Raquel zögerte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, bei einer einfachen Frage herumzudrucksen. Wir wichen einer Frau auf dem Gehweg aus, die drei riesige Einkaufstaschen in jeder Hand schleppte, und ich wiederholte: »Waren … was?«
»Waren noch unterwegs. Allein. Damit wir … mal ein bisschen für uns sind.«
Ich zuckte mit den Schultern. Was war schon groß daran?
Dann sah ich den zögernden Ausdruck auf Raquels Gesicht und das hoffnungsvolle Leuchten in ihren Augen, und ich begriff, dass ich vermutlich die blindeste Person auf der ganzen Welt war. »Du und Dana, ihr seid …«
»Ich und Dana.« Raquel grinste; es war das breiteste Lächeln, das ich je auf ihrem Gesicht gesehen hatte, doch es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, als ob sie es nicht länger halten konnte. Ihre Unsicherheit kehrte schnell zurück. »Du hast doch damit kein Problem, oder?«
»Schon ein bisschen«, gestand ich, »aber nur, weil du nie etwas gesagt hast. Nach all den Sachen, die wir uns erzählt haben, hättest du es mir ruhig ein bisschen früher anvertrauen können.«
»Man weiß nie, wer komisch darauf reagiert. Außerdem hast du immer versucht, mich mit Jungen zu verkuppeln.«
»Ich habe versucht, dich mit Vic zusammenzubringen. Einem einzigen Jungen. Kein Plural.«
Mein Kopf schwirrte ein wenig. Wenigstens hatte das Reden über ihr Liebesleben Raquel abgelenkt … und mich ebenfalls. »Ich hätte es nie erraten.«
Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Hallo? Kein Interesse an Männern? Noch nie?«
»Ich wollte nicht in Stereotypen denken.«
» Nicht in Stereotypen denken ist die eine Sache; und dann gibt es noch überhaupt nicht denken. «
»Okay, wenn du willst, dass ich mich wirklich blöd fühle, hast du dein Ziel erreicht.«
Wir starrten einander eine Sekunde lang an, dann brachen wir in schallendes Gelächter aus. Ich umarmte sie fest, und dann hörte ich mir ungefähr eine halbe Stunde lang an, wie wunderbar und unglaublich und klug und einzigartig Dana war. Auch wenn ich Raquel da völlig zustimmte, war keinerlei Reaktion meinerseits notwendig. Meine Aufgabe war zu lächeln, zu nicken und mich für sie zu freuen. Das war leicht zu bewerkstelligen.
Weiß Lucas davon ?, fragte ich mich. Wahrscheinlich schon, oder er vermutete zumindest etwas in diese Richtung. Er und Dana standen sich ziemlich nah. Das war nur eines der Dutzend Themen, die wir noch nicht hatten besprechen können, weil uns bisher die Gelegenheit dazu gefehlt hatte.
Kurz vor Sonnenuntergang kehrten wir ins Hauptquartier des Schwarzen Kreuzes zurück, glücklicherweise ohne dass ich noch andere Vampire an Milos verraten hatte. Als ich meine verschwitzten Klamotten auszog, ging Raquel hinaus und versprach, Essensrationen für uns beide zu besorgen. Mir war nicht danach, irgendetwas zu mir zu nehmen, noch weniger den siebenten Tag in Folge Haferbrei zu essen, aber ich dankte
Weitere Kostenlose Bücher