Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
umliegenden Wohnungen heraus hörte ich Fetzen von Salsamusik in unterschiedlichem Tempo wie miteinander wetteifernde Herzschläge. »Ich muss irgendwas zu essen finden, sonst werde ich noch verrückt.«
»Es gibt ein Krankenhaus nicht weit vom Hauptquartier entfernt. Ich habe überlegt, ob ich nicht in die Blutbank einbrechen könnte, beinahe so wie letztes Jahr, weißt du noch?«
Es war eine gute Idee für die Zukunft, aber ich brauchte eine Lösung für sofort. »Lucas, ich kann nicht mehr länger warten. Das meine ich ernst. Ich muss heute Nacht noch Blut zu mir nehmen.«
Er blieb stehen, und einige Sekunden lang starrten wir uns dort, mitten auf dem Gehweg, an. Der Ausschnitt seines T-Shirts war schweißgetränkt, und die Farben der Nacht ließen sein Haar dunkler erscheinen. Mit dem Daumen streichelte er meine Wange. Ich war erschrocken, wie warm seine Haut auf meinem eisigen Gesicht war.
Leise sagte Lucas: »Ich werde mich um dich kümmern.«
»Das weiß ich.« Mein Vertrauen in ihn war grenzenlos. »Aber wie? Gibt es hier einen Ort, wo wir jagen können?«
»Komm mit.«
Schneller, angetrieben von einem unbeirrbaren Entschluss, zog Lucas mich jetzt hinter sich her. Einige Häuserblöcke weiter wurde die Gegend etwas ruhiger – inzwischen waren wir weit entfernt von den Hauptstraßen und näher am Wasser.
Wir kamen an einem Geschäft vorbei, dessen Fenster von innen mit Zeitungspapier verklebt waren, und es waren Schilder mit der Aufschrift Zu vermieten aufgehängt worden. Dort blieb Lucas stehen. »Ich schätze, hier ist keine Menschenseele«, sagte er und nahm einen dünnen, metallenen Dietrich aus der Tasche seiner Jeans. »Was bedeutet, dass es hier auch keine scharfe Alarmanlage gibt.«
»Warum brechen wir denn hier ein?«
»Privatsphäre.«
In nicht mal vier Sekunden hatte Lucas das Schloss geknackt. Ich erinnerte mich an meinen eigenen, armseligen Einbruchsversuch vor beinahe einem Jahr, und ich beneidete ihn um seine sichere Hand.
Wir schlüpften in den Laden, und sofort schloss Lucas hinter uns die Tür. Der Schein der Straßenlaternen schimmerte durch die Zeitung und tauchte alles in ein gedämpftes, beinahe goldenes Licht. Die harten Bohlen unter uns waren alt und abgetreten, und eine verlassene Theke säumte die eine Wand. Ein fleckiger Spiegel hing hinter der Bar, und ich stellte mich davor, um mich zu betrachten. Ich war nur ein Schatten, ein blasser, silbriger Schemen meiner selbst. Wie ein Geist.
So hatte Patrice immer ausgesehen, wenn sie eine Weile kein Blut hatte trinken wollen, dachte ich. Ich hätte nie erwartet, dass mir das ebenfalls passieren könnte. Warum hatte ich nicht begriffen, was es bedeutete, ein Vampir zu sein?
»Okay«, sagte Lucas. Er wirkte nervös. »Wir sind allein.«
Ich lächelte ihn an, obwohl ich traurig war. »Ich wünschte, wir könnten diese Gelegenheit für etwas anderes nutzen, als für mich Nahrung zu suchen«, sagte ich. Seine Küsse lagen schon so lange zurück; sie waren eine Erinnerung, die beinahe zu schön war, um noch länger zu meinem wirklichen Leben zu gehören. »Was wollen wir denn jetzt tun? Hast du einen Plan?«
»Ja. Du wirst von mir trinken.«
Zuerst glaubte ich, mich verhört zu haben. Natürlich hatte ich schon mal von Lucas’ Blut getrunken – bei zwei Gelegenheiten bislang. Beide Male war die Erfahrung intensiv gewesen, um es mal vorsichtig auszudrücken. Blut zu trinken war ein sinnlicher Akt, ja in gewisser Weise sogar eine sexuelle Erfahrung. Ich hatte nur ein einziges Mal das Blut eines anderen Jungen gekostet, nämlich das von Balthazar, und näher war ich nie dran gewesen, Liebe zu machen. Aber was zwischen Balthazar und mir geschehen war, war rein körperlicher Natur gewesen. Mit Lucas waren die Gefühle ungleich stärker gewesen.
Also hätte ich mich mit Freuden auf die Chance stürzen sollen, richtig? Falsch.
Bei den letzten Malen, als es zwischen uns geschehen war, hatte ich vorher genug getrunken. Dass ich bei Lucas die Kontrolle verloren hatte, hatte an meiner Leidenschaft für ihn gelegen, nicht daran, dass ich Hunger hatte. Dieselbe Liebe, die mich dazu getrieben hatte, ihn zu beißen, hatte mich auch dazu gebracht, aufzuhören, ehe ich ihm etwas antun konnte. Doch nun war ich diesem ungezügelten Bohren in mir ausgeliefert, dem Gefühl, dass irgendetwas von innen an mir nagte, und ich war mir keineswegs mehr sicher, dass ich die Kraft finden würde, aufzuhören.
»Es ist gefährlich«, sagte ich. »Wir
Weitere Kostenlose Bücher