Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
ihr und ließ sie ziehen. Ein wenig Zeit allein schien mir ein guter Plan zu sein.
Nachdem ich mir etwas Frisches angezogen hatte, schlenderte ich durch den Tunnel. Es war der erste Augenblick, den ich seit dem Sturz von Evernight wirklich ganz für mich hatte. Ansonsten hatte ich immer etwas zu tun oder Leute um mich herum gehabt. Die undurchdringliche Finsternis weiter hinten im Tunnel, hinter den Lichtern des Schwarzen Kreuzes, schien eine so absolute Grenze zu sein, als wäre es eine Mauer.
Ich habe diesen Vampir in einem Traum gesehen , dachte ich. Ich hatte mich schon vorher gefragt, ob meine Träume anfingen, die Zukunft vorherzusagen, aber dies war der sicherste Beweis, den ich bislang bekommen hatte. Der Vampir mit den rötlichen Dreadlocks war mir von dem Geist gezeigt worden.
Es war so viel Zeit vergangen, seitdem ich in der Evernight-Akademie von Geistern heimgesucht worden war, und ich hatte mich derartig an das tröstliche Gefühl der Sicherheit durch den Obsidian-Anhänger um meinen Hals gewöhnt, dass ich es geschafft hatte, einige meiner Ängste bezüglich der Geister zu verdrängen. Aber nun, wo die Geister in meine Gedanken eindrangen und mir die Zukunft zeigten, kehrten Verwirrung und Furcht zurück.
Sie waren hinter mir her, weil ich in gewisser Weise ebenso sehr das Kind eines Geistes wie das von Vampiren war. Meine Eltern waren mit den Geistern einen Handel eingegangen, sodass ich geboren werden konnte. Vampirinnen konnten nicht aus eigener Kraft schwanger werden; mit der Hilfe eines Geistes jedoch war das möglich. Was meine Eltern damals nicht gewusst hatten und ich selbst auch erst vor einigen Monaten begriffen hatte, war die Tatsache, dass sich die Geister als die rechtmäßigen Besitzer jedes Kindes ansahen, das aus solch einem Handel hervorging. Ich wusste wirklich nicht genau, was das zu bedeuten hatte, aber nach den Angriffen auf mich in Evernight zu urteilen hieß das: Die Geister wollten nicht, dass ich als normale Vampirin lebte. Nun, was das anging, war ich mit ihnen einer Meinung. Ich hatte die Schule und meine Eltern verlassen, und ich war der Überzeugung, dass ich niemals ein menschliches Wesen umbringen und eine richtige Vampirin werden würde.
Offenbar war das den Geistern nicht genug. Ich fragte mich, was sie sonst noch wollten. Würden die Geister auch weiterhin in meine Träume eindringen? Wenn sie noch immer hinter mir her waren, warum griffen sie mich dann nicht mehr an? Warteten sie nur auf einen guten Zeitpunkt?
Dann, während ich an den eisernen Bahnschienen entlanglief, dämmerte mir, dass ich mir über etwas Gedanken machte, was nie eintreten würde.
Eisen! Wenn es stimmte, was mir Balthazar erzählt hatte, dann wurden die Geister von gewissen Steinen und Metallen abgestoßen. Obsidian, wie mein Kettenanhänger, gehörte dazu. Am abschreckendsten überhaupt aber wirkten die Metalle, die sich im menschlichen Körper finden ließen, wie Kupfer und Eisen. Und das bedeutete, dass das Hauptquartier des Schwarzen Kreuzes, nun ja, geistersicher war.
Ich war erleichtert und begann mich ein wenig zu entspannen. Mir fiel ein, dass ich nun, wo ich etwas Zeit für mich allein hatte, vielleicht Jagd auf einige Mäuse in den Tunneln machen könnte. Lucas’ Blut in mir war noch immer warm, aber ich war nicht scharf darauf, noch einmal derartig hungrig zu sein.
In diesem Augenblick hörte ich das Klopfen.
Klick, klick, klick, klick.
Ich starrte hinauf in die Dunkelheit. Selbst meine verbesserte Vampir-Sicht ließ mich nicht mehr erkennen als ein Durcheinander von Rohren und dazwischenliegenden Schatten. Dann wieder – klick, klick, klick, klick . Das Geräusch von Metall auf Metall.
Vielleicht war da nichts.
Vielleicht nicht.
Ich rannte zurück zu den U-Bahnwaggons und hielt nach Raquel Ausschau. Stattdessen jedoch stieß ich mit Eliza zusammen, was jedoch noch besser war. »Da unten im Tunnel ist irgendetwas los«, keuchte ich. »Da ist ein seltsam klopfendes Geräusch.«
»Hier unten klingt alles komisch.« Offenbar brauchte es eine Menge, um Eliza zu erschüttern, und einige merkwürdige Laute waren noch nicht einmal annähernd ausreichend. »Hör zu, ich weiß, dass du gerade am Durchdrehen bist, das ist ja auch kein Wunder. Aber du musst versuchen, einfach ruhig zu bleiben, okay?«
In diesem Moment hörte ich ein entsetzliches Dröhnen … und der hintere Teil des Tunnels brach ein.
Beton bröckelte herab, riesige Blöcke in der Größe von ganzen Räumen
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