Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
die Beine riss. Ich konnte nicht aufrecht stehen – nicht, ohne zu schwanken –, aber die Hand verhinderte, dass ich fiel.
»Machen Sie die Augen auf«, sagte Mrs. Bethany.
Ich gehorchte. Im Tunnel war es vollkommen still geworden, abgesehen von herumrollenden kleinen Steinen und dem Schutt, der noch immer herabregnete. Die dichte Staubwolke hatte sich ein wenig gelegt. Nur meiner Vampirsicht verdankte ich es, dass ich Mrs. Bethany in der Dunkelheit ausmachen konnte, wenngleich auch nur als tintenblauen Schatten, der vor dem schwarzen Hintergrund zu erkennen war.
Meine Kehle schmerzte vom Einatmen des Mörtelstaubs. Ich krächzte: »Sind Sie gekommen, um mich zu töten?«
Sie legte den Kopf schräg, als hätte ich etwas Amüsantes gesagt. »Ich denke, Sie sind zu mehr nütze.«
»Sind Sie hier, um sich am Schwarzen Kreuz zu rächen? Oder nur an mir?«
»Für wie wichtig halten Sie sich eigentlich?«, setzte Mrs. Bethany an und zerrte mich mit sich. Ich hatte mein Gleichgewicht immer noch nicht wiedergefunden und stolperte hinter ihr her, hustete und stöhnte angesichts ihres eisernen Griffs an meinem Arm. »Meine Verkettung mit dem Schwarzen Kreuz hat schon lange vor Ihrer Geburt ihren Ausgang genommen, Miss Olivier. Und ich nehme an, sie wird auch noch bis lange nach Ihrem Tod andauern.«
Auch wenn mich die Sorge fest in den Klauen hielt – Wo ist Lucas? Was ist mit Raquel? –, wusste ich doch, dass Mrs. Bethany nicht meinen Tod im Sinn hatte. Wäre es anders, hätte sie mich bereits umgebracht.
Mrs. Bethany fuhr fort: »Ich schulde Ihnen jedoch etwas. Immerhin haben Sie dies alles hier ermöglicht.«
»Ich? Was wollen Sie damit sagen?«
»Nicht jeder Vampir steht mit den Neuen Technologien auf Kriegsfuß, auch wenn Mr. Yees Unterricht etwas anderes vermuten lässt.« Sie steuerte das Geröll an, das inzwischen den Tunnel säumte. »Nachdem Sie Ihren Eltern an ihre Evernight-Adresse geschrieben hatten, war es ein Leichtes, die ISP-Spur nach New York zurückzuverfolgen. Wir hatten erst vor Kurzem erfahren, wo das Schwarze Kreuz sein Hauptquartier in der Stadt eingerichtet hat, also hätten Sie uns ebenso gut einen Stadtplan aufzeichnen können.«
O nein . Dieser Angriff war also meine Schuld. Lucas hatte mir erklärt, wie streng das Schwarze Kreuz die Benutzung des Internets reglementierte, aber ich hatte das immer für eine weitere ihrer dummen Beschränkungsvorschriften gehalten. Zu spät erkannte ich die wahren Gründe.
»Die Leute vom Schwarzen Kreuz haben gesagt, Sie würden hier nicht herkommen«, sagte ich niedergeschlagen. »Dass Vampire es nicht wagen würden, ihre Hauptquartiere anzugreifen. Dass das nur ein einziges Mal geschehen sei, und dass sie dabei den Anführer getötet hätten …«
»Bis vor sehr kurzer Zeit stimmte das auch noch.« Die unebenen Steine rollten unter meinen Füßen weg, und ich verstauchte mir den Knöchel. Ich schrie auf, und zu meiner Überraschung blieb Mrs. Bethany stehen. »Aber nach dem Angriff auf Evernight waren weitaus mehr unserer Art als zuvor bereit, sich zusammenzuschließen und zu handeln. Wir sind wieder vereint. Ihre unheilvolle Romanze, Miss Olivier, hat immerhin einem Ziel gedient. Meinem. Was Ihre eigenen Ziele angeht … nun ja.«
»Sie wissen nichts über mich und Lucas.« Doch ich fragte mich plötzlich, ob sie nicht vielleicht doch etwas wusste, und eine entsetzliche Sekunde lang befürchtete ich, sie würde mir mitteilen, Lucas sei tot.
Stattdessen jedoch sagte Mrs. Bethany: »In Anerkennung des Gefallens, den sie mir so unwissentlich und unbeabsichtigt erwiesen haben, biete ich Ihnen eine weitaus bessere Möglichkeit an, als Sie verdienen. Wenn Sie möchten, können Sie nach Hause zurückzukommen.«
»W-wie bitte?«
»Schwer von Begriff, wie ich sehe. Miss Olivier, Sie können nach Evernight zurückkehren. Auch wenn das Hauptgebäude augenblicklich unbewohnbar ist, haben wir für die Dauer der Reparaturen, die nur zwei oder drei Monate in Anspruch nehmen werden, Zwischenbehausungen aufgestellt. Ihre Eltern sind dort und beaufsichtigen den Wiederaufbau. Natürlich wären sie heute gerne mitgekommen, aber sie waren gefühlsmäßig zu stark eingebunden. Ihre Waghalsigkeit hätte unsere Bemühungen behindert. Wie froh jedoch wären sie, wenn Sie mit uns anderen zurückkehren würden.«
Das war nicht fair. Der Gedanke an meine Eltern, die in Evernight warteten und hofften, dass ich jeden Augenblick durch die Tür kommen würde, machte mir
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