Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
Verzweifelt versuchte ich, ihn zur Seite zu schieben, und starrte ungläubig auf den Pflock, der aus seinem Rücken ragte.
Eine Armbrust. Jemand hat durch das Fenster geschossen.
Charity fluchte, sprang nach vorne und zog Shepherd den Pflock aus dem Rücken. Ich strampelte wie verrückt unter ihm, aber Charity schien andere Prioritäten zu haben. »Wir sehen uns wieder«, sagte sie und zog den schwankenden, benommenen Shepherd auf die Beine. »Los, beweg dich.«
Sie rannten zur Tür, und einen Moment lang war ich allein. Mein Atem ging schnell, und ich war beinahe zu betäubt, um zu denken. Dann hörte ich draußen vor der Tür Dana kreischen: »Wo zur Hölle steckt Bianca?«
»Dana!« Ich rappelte mich auf. Meine Knie fühlten sich wie aus Gummi an. »Dana, alles in Ordnung.«
Doch schon konnte ich draußen den Kampf toben hören: die dumpfen, klatschenden Geräusche der Körpertreffer und die Schmerzensschreie, die auf dem Gang widerhallten.
Ich ging zur Tür und spähte hinaus. Charity war verschwunden. Shepherd und Dana kämpften weiter hinten auf dem Flur in der Nähe eines Notausgangs, von dem aus offenbar Fluchttreppen abgingen. Es war schwer zu sagen, wer gewinnen würde, aber ich erblickte kurz Shepherds Gesicht und sah, dass seine Reißzähne gewachsen waren, bereit, jederzeit zuzubeißen. »Pass auf«, schrie ich.
Dana drehte sich herum und versetzte Shepherd einen harten Hieb mit der linken Hand, dann stieß sie ihn weg. Er taumelte durch die Tür, kippte übers Geländer und stürzte die Treppe hinunter, begleitet vom metallenen Krachen, als er auf dem Weg nach unten immer wieder auf dem Handlauf aufschlug.
»Los, komm«, brüllte Dana. »Wir haben keine Zeit für den Lift.« Ich folgte ihr und rannte, so schnell mich meine zitternden Beine trugen. Aber als wir unten auf der Straße ankamen, war Shepherd bereits verschwunden. Der Portier hing ohnmächtig über seinem Tisch; entweder hatte Dana ihn niedergeschlagen, oder Shepherd und Charity waren dafür verantwortlich.
Wir verließen das Gebäude und stolperten hinaus in den Regen. Mir war es egal, dass ich nass wurde, solange ich nur nie wieder dieses Haus würde betreten müssen. Raquels Gesicht strahlte, als wir durch die Tür kamen. »Gott sei Dank seid ihr beide okay.«
»Hast du ihn gesehen?«, fragte Dana. »Unseren Möchtegern-Rastaboy? «
»Nein, hier ist keiner rausgekommen. Vielleicht hat Milos ihn gesehen.« Raquel deutete auf ein Dach auf der anderen Straßenseite, auf dem wir eine Gestalt mit einer Armbrust erkennen konnten. Milos, einer der grausamsten Vampirjäger, war vielleicht der Grund dafür, dass ich noch am Leben war.
»Du siehst ja ganz erledigt aus.« Dana legte mir die Hand auf die Schultern. »Bist du in Ordnung, Bianca?«
Ich schüttelte den Kopf. Sie drückte mich fest an sich, und Raquel umarmte mich von hinten. Ihre Erleichterung war ebenso groß wie meine, das konnte ich spüren.
Sie waren zwei meiner liebsten Freundinnen. Sie waren Vampirjägerinnen. Sie liebten mich, und sie hatten dabeigestanden, als Balthazar gefoltert wurde. Ich war so wütend auf sie, dass ich hätte schreien können, und ich liebte sie so sehr, dass es wehtat. Ich wusste, dass sie Böses taten, wenn sie Vampire töteten, und doch hatte der Vampir, den ich eben zu retten versucht hatte, mich betrogen. Alles war miteinander verstrickt, und ich musste damit leben.
Ohne ein Wort erwiderte ich die Umarmung und sagte mir immer wieder, dass alles, was nach diesem Augenblick geschehen würde, unwichtig war.
Am nächsten Tag war ich von meinen Patrouillepflichten entbunden, was an sich schon angenehm genug war. Doch obendrein gab Eliza auch Lucas einen freien Tag. Nun ja, ein »freier Tag« bedeutete, »mal die Reste unseres alten Hauptquartiers zu durchforsten, anstatt Vampire zu jagen«. Einige andere würden sich später zu uns gesellen, sagte Eliza, doch zunächst waren Lucas und ich alleine eingeteilt. Solange wir beide beisammen waren, war mir alles andere egal.
»Bist du sicher, dass du in Ordnung bist?«, fragte Lucas ungefähr zum zehnten Mal. Wir standen in der Nähe von einem der alten Zugwaggons, knietief in den herabgefallenen Gesteinsbrocken versunken. Und wir waren genauso verdreckt wie am Tag des Angriffs.
»Ich verspreche dir, dass es mir gut geht. Charity hat mir nur Angst eingejagt.«
»Sie will dich zur richtigen Vampirin machen«, sagte Lucas. »Und es klingt, als ob sie vorhätte, dich auch ein weiteres Mal
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