Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
schüttelte den Kopf. »Wenn Balthazar will, dass du weißt, wo er steckt, dann wird er dich finden. Jetzt im Augenblick ist er noch ein wenig schwach. Du musst ihn also in Ruhe lassen, Charity.«
Der Vampir mit den Dreadlocks hatte auf dem weißen Sofa Platz genommen und schnaubte verächtlich. Charity legte den Kopf schräg, und eine strähnige Locke fiel ihr über die Wange. »Du willst mir nicht verraten, wo er ist?«
»Letzten Winter wolltest du noch, dass er dich in Frieden lässt. Warum denn plötzlich dieser Sinneswandel?«
»Ich habe nicht gewusst, wie verrückt er ist«, antwortete sie, was aus dem Mund einer Irren beinahe unglaublich ironisch klang. »Oder was für ein Heuchler er geworden ist. Früher hat er zugegeben, dass er im Grunde seines Herzens ein Mörder ist. Er hat sich daran erinnert, dass er es war, der mich getötet hat. Also sag mir, wo er steckt, Bianca. Ich will es ihm wieder ins Gedächtnis rufen.«
Würde ich vor ihr weglaufen können? Vermutlich nicht. Wenigstens wartete Raquel draußen. Wenn ich nach einer Weile nicht wieder auftauchte, dann würde sie Hilfe holen. Das Beste, was ich im Augenblick tun konnte, war, Charity hinzuhalten. »Es tut mir leid, Charity, aber ich werde es dir tatsächlich nicht verraten.«
»Bist du jetzt eine Vampirjägerin?« Sie deutete auf meinen Gürtel, an dem ein Pflock hing. Meine Hand hatte sich dort hingestohlen; offenbar sorgte mein Unterbewusstsein für den Drang, mich zu verteidigen. »Du bist beim Schwarzen Kreuz, so wie dein Liebling Lucas? Balthazar ist wohl nicht der Einzige, der auf Abwege geraten ist.«
Charity machte noch einen Schritt vorwärts, und ich wich vor ihr zurück. Einer ihrer langen, stockdünnen Arme schlug die Wohnungstür ins Schloss, und ich hörte, wie die automatische Verriegelung zuschnappte. Charitys Gesicht war so süß und jung und ihr Körper scheinbar so zerbrechlich, dass es mich beinahe erstaunte, als ich bemerkte, wie groß sie war. Sie war nur einige Zentimeter kleiner als ihr Bruder. Aber ihre Körpergröße war es nicht, die ihr Kraft verlieh, sondern sie diente nur als beeindruckende Erinnerung.
Ich muss sie ablenken , dachte ich. Das wird mir Zeit verschaffen . »Mrs. Bethany war ganz schön wütend.«
»Na, das kann ich mir denken.« Sie kicherte mädchenhaft. »Weißt du noch, wie ihre Nase ganz spitz geworden ist, wenn sie sich aufregte? Das hat mich immer so zum Lachen gebracht.«
Charity verzog ihr Gesicht zu einer derart treffenden Imitation von einer wutentbrannten Mrs. Bethany, dass ich trotz meiner Angst beinahe gelächelt hätte. Aber ich vergaß nicht, dass das Charity ähnlich sah: Sie sorgte dafür, dass man sie mochte, nur um dann völlig unvorbereitet zuzuschlagen.
»Mrs. Bethany hat eine Menge Vampire um sich herum versammelt. Dutzende, vielleicht sogar Hunderte.«
Diese Mitteilung hatte stärkere Wirkung, als ich erwartet hatte. »Das darf nicht sein«, flüsterte Charity, und alle Belustigung war aus ihren Augen gewichen. »Die Clans dürfen sich nicht hinter Mrs. Bethany stellen. Das ist wichtig.«
»Verrätst du mir auch, warum?«
»Ja«, antwortete Charity, was mich überraschte. Dann lächelte sie, allerdings viel zu süß. »Nachdem du mir gesagt hast, wo mein Bruder steckt. Und du wirst mir das sagen.«
Zu schnell, um es mit dem Auge erfassen zu können, machte Shepherd einen Satz auf mich zu. Ich konnte ihm zwar ausweichen, aber nur um Haaresbreite, und ich taumelte rückwärts gegen die Wand. Als er mich erneut angriff, erinnerte ich mich an die Trainingskämpfe mit Lucas beim Schwarzen Kreuz. Die Bewegungen waren mir in Fleisch und Blut übergegangen: nach links ausweichen, seinen Arm packen, seinen Körper herumdrehen und ihm einen Stoß versetzen. Shepherd prallte so heftig gegen die Tür, dass diese in den Angeln vibrierte.
Ich fühlte mich in großartiger Form – zumindest die Sekunde lang, die Charity brauchte, um mich von hinten zu packen.
»Lass mich los!«, schrie ich. »Die Verstärkung ist schon auf dem Weg.«
»Nicht mehr rechtzeitig, um dich zu retten.« Charity riss mich kräftig genug nach hinten, dass ich den Halt verlor; dann warf sie mich auf den Teppich.
Panik überfiel mich und drohte, mir die Kraft zum Nachdenken zu rauben.
In diesem Augenblick zerbarst krachend ein Fenster. Glassplitter flogen in alle Richtungen, und ich schrie vor Schreck auf, ebenso wie Shepherd, der jedoch vor Schmerz brüllte. Er fiel zu Boden, halb auf mich drauf.
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