Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
Woche alle möglichen Vorschläge gemacht, was man unternehmen könnte, wie eine Kutschfahrt durch den historischen Teil von Philadelphia zu machen oder einfach stundenlang im Bett zu liegen.
Stattdessen brachen wir in besagte Gegend mitten in der Stadt auf, wo die Frau gestorben war.
Als die Sonne unterging, kamen Lucas und ich in der fraglichen Gasse an. Wir konnten nicht bis zum Fundort der Leiche durchgehen, denn ein Teil der schmalen Gasse war mit gelbem Band abgesperrt, auf dem Tatort stand.
»Wir könnten drunter durchschlüpfen«, schlug ich vor. »Selbst wenn die Polizei uns dort hinten aufgreift, dann wird sie höchstens denken, dass wir uns was Schauriges angucken wollten. Als Mutprobe vielleicht.«
»Die Mühe lohnt sich nicht. Wir wissen doch, wie alles hier endete. Was wir herausbekommen müssen, ist, wo es angefangen hat.«
Lucas und ich schlenderten durch die Nachbarschaft und hielten Ausschau nach einem Platz, den ein Vampir sich aussuchen würde, wenn er potenzielle Opfer ausfindig machen wollte. Die Neonreklame für Bier in einem Fenster einer nahe gelegenen Bar schien uns einen nützlichen Hinweis zu geben.
»Ich gehe hinein«, sagte Lucas. »Dann kann ich mir mal die Leute da drinnen anschauen.«
»Wolltest du nicht vielleicht sagen, wir gehen hinein?«
»Nein.« Als ich Lucas einen giftigen Blick zuwarf, seufzte er. »Hör mal, wir sind beide zu jung, um legal in einer Bar zu sein. Aber ich bin zwanzig und gehe auch als älter durch. Du bist siebzehn, … «
»Nur noch zwei Wochen lang …«
»… und du siehst auch aus wie siebzehn. Wenn ich allein reingehe, sind die Chancen hoch, dass niemand mich wieder rauswerfen wird. Aber wenn du reingehst, steht es bestenfalls fünfzig-fünfzig, dass uns der Barkeeper nicht sofort wieder rausschmeißt. Außerdem, so, wie du gekleidet bist…«
Lucas warf mir in meinem blauen Sommerkleid einen wohlwollenden Blick zu, der ein breites Lächeln auf mein Gesicht zauberte. »… ziehst du definitiv zu viel Aufmerksamkeit auf dich.«
»Hm. Wenn du es so ausdrückst …«
Lucas küsste mich zärtlich, und ich legte ihm meine Hände auf die Brust. Ich mochte das Gefühl, zu spüren, wie sich beim Atmen sein Brustkorb hob und senkte. Er murmelte: »Besorg dir was zu essen, ja? Ranulfs Vorräte sind uns schon vor ein paar Tagen ausgegangen. Du musst ja am Verhungern sein.«
Mir war es nicht einmal aufgefallen, dass ich kein Blut mehr bekommen hatte. »Ich hab mir zwischendurch das eine oder andere geholt«, log ich. »Mach dir keine Sorgen.«
Er warf mir einen seltsamen Blick zu, und ich befürchtete, dass er meine eigene Beunruhigung gespürt hatte. Doch dann küsste er mich auf die Stirn und machte sich ohne ein weiteres Wort auf den Weg in die Bar.
Du weißt doch, dass du wirklich mal wieder etwas zu dir nehmen solltest . Ich begann, mich nach Lebenszeichen umzuschauen. Wahrscheinlich war es nicht so schlimm, dass ich in letzter Zeit kein Verlangen nach Blut mehr verspürt hatte. Schließlich verloren auch die Menschen ihren Appetit, wenn sie krank waren. Bestimmt hatte ich mir eine Grippe eingefangen oder etwas in der Art, und anstatt menschliche Symptome zu entwickeln, zeigte ich eben Vampirsymptome. Ich sollte dafür sorgen, genug Blut zu bekommen, dann würde ich auch wieder gesund werden.
Gassen sind gute Orte, um auf Nahrungssuche zu gehen, sowohl für Ungeziefer als auch für die Kreaturen, die eben diese Viecher aufspüren wollen. Schon nach wenigen Minuten hörte ich hinter einer Abfalltonne etwas rascheln. Ich rümpfte wegen des Gestanks die Nase, als ich hinter den Kübel schoss und zupackte: Eine kleine Ratte zappelte in meinem Griff. Sie roch nicht besser als der Rest der Umgebung, und der Gedanke daran, wo sie überall gewesen sein mochte, gefiel mir überhaupt nicht.
Das hat dir doch vorher noch nie etwas ausgemacht , sagte ich mir. Denk mal an die Tauben in New York. Das sind im Grunde fliegende Ratten . Früher hatte mich mein Verlangen nach Blut dazu gebracht, jeden Ekel zu überwinden. Ohne richtigen Appetit sah die Sache schon ganz anders aus.
Als die Ratte zuckte, sagte ich: »Es tut mir leid.« Dann, ehe ich mich noch länger zieren konnte, biss ich kräftig zu.
Das Blut floss mir in den Mund, doch der Geschmack war … schal. Leer. Wie eine schlechte Imitation von etwas Wirklichem. Ich zwang mich dazu, die vier Schlucke, die die Ratte zu bieten hatte, hinunterzuwürgen, aber ich mochte das Blut nicht.
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