Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
Tatsächlich schmeckte es abscheulich. Ich erinnerte mich an das eine Mal, als Lucas Blut gekostet hatte, und an das Gesicht, das er gezogen hatte, als er es wieder ausspuckte. Endlich wusste ich, wie die Erfahrung für ihn gewesen sein musste.
Ich warf den Kadaver der Ratte in die Mülltonne und kramte eilig in meiner Tasche nach Pfefferminzbonbons. Das Letzte, was ich wollte, war, aus dem Mund nach Ratte zu stinken.
Doch auch die Drops schmeckten nach gar nichts. Vielleicht war es mir bislang nicht richtig aufgefallen, weil Lucas und ich die meiste Zeit über fade Mikrowellengerichte gegessen hatten, aber auch die menschliche Kost schmeckte nicht mehr wie früher.
Was ist denn nur los mit dir?
»Was ist denn nur los mit dir?«
Mit einem Schlag war ich wachsam. Die Stimme, die ich gehört hatte und die von einer Frau zu stammen schien, kam von einer Stelle, die ungefähr einen Häuserblock entfernt war. Mit meinem Vampirgehör klang jedes Wort klar und deutlich, als ob ich nur ein paar Schritte entfernt stünde.
»Nichts ist mit mir los«, sagte ein Mann mit samtweicher Stimme. »Und mit dir ist auch nichts los, soweit ich das riechen kann.«
»Ich rieche ganz normal«, war die Antwort. »Und ich meine … deine Zähne …«
»Was? Du wirst doch wohl nicht so oberflächlich sein wollen, oder? Nur nach dem äußeren Eindruck urteilen?«
Ich holte einen Pflock aus meiner Tasche und hastete auf die Stimmen zu. Hoffentlich war Lucas diesem Kerl ebenfalls auf der Spur; wenn nicht, dann dürfte ich wenig Chancen haben, etwas auszurichten. Meine Riemchensandalen knallten auf dem Pflaster, und ich wünschte, ich wäre so schlau gewesen, mir etwas Leiseres und Praktischeres als einziges Paar Schuhe auszusuchen. Aber ich schätzte, dass der Vampir ohnehin abgelenkt war.
Als ich an der Ecke ankam, blieb ich stehen und sah mich um. Ihre Silhouetten zeichneten sich scharf vor der nahen Straßenlaterne ab. Die Dämmerung war gerade erst in Nacht umgeschlagen. Der Vampir war klein, aber kräftig, wohingegen die Frau fast winzig war und ihm kaum bis zur Schulter reichte.
»Du machst mich nervös«, sagte sie und versuchte, es so klingen zu lassen, als ob sie flirtete, doch ich konnte hören, dass ihr genau genommen danach gar nicht wirklich der Sinn stand. Sie wollte nur nicht verraten, wie verängstigt sie war. Das stand auf der Liste der Dinge, die Vampire zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, ganz oben: Die Weigerung der Leute zu glauben, dass ausgerechnet sie in das schlimmste denkbare Szenario geraten könnten.
Der Vampir beugte sich näher zur Frau, die Arme rechts und links von ihr gegen die Wand gestützt, sodass er sie regelrecht gegen die Backsteinmauer des nächsten Gebäudes presste. »Ich versuche, dich anzutörnen. Deinen Puls zum Rasen zu bringen.«
»Wirklich?« Sie lächelte schwach.
»O ja.«
Ich hatte genug. Auch wenn ich mich nicht der Illusion hingab, ich könnte den Typen erschrecken, glaubte ich doch, ich könnte ihn wenigstens überraschen. Und das könnte schon reichen.
Schnell hob ich den Pflock in Angriffsposition, sprang um die Ecke und schrie: »Lass sie los!«
Er warf mir einen Blick zu und grinste feixend. So viel also zum Überraschungsmoment. »Was passiert denn ansonsten, kleines Mädchen?«
»Oder ich paralysiere dich damit. Und dann hast du nicht mehr viel zu lachen.«
Die Augen des Vampirs wurden etwas größer. Da ich ganz richtig beschrieben hatte, was das Pfählen für einen Vampir bedeutete, war ihm klar, dass ich wusste, wovon ich sprach. Das war schließlich auch Sinn der Sache gewesen. Aber es schüchterte ihn nicht annähernd so ein, wie ich gehofft hatte. »Das kannst du ja mal versuchen.«
»Entschuldigung«, sagte die Frau. »Kennt ihr beide euch?«
»Wir sind kurz davor, uns richtig gut kennenzulernen.« Der Vampir löste die Arme von der Frau, und sie war schlau genug zu türmen. Ihre Schritte klapperten auf dem Bürgersteig und wurden in der Ferne leiser. Der Vampir schlenderte hochmütig auf mich zu. Auch wenn er ein kleiner Bursche war, warf die Straßenlaterne seinen Schatten lang und dürr über mich.
Lucas , dachte ich, das wäre jetzt ein wirklich guter Zeitpunkt, aus der Bar zu kommen und nach mir zu sehen.
Der Vampir blieb stehen. »Du riechst nicht nach Mensch.«
Ich hob die Augenbrauen. Wenigstens hatte ich jetzt seine Aufmerksamkeit. Jeder andere Vampir, dem ich bislang begegnet war, war beeindruckt gewesen von der Tatsache, dass ich eine geborene
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