Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
gehalten.
Sie strich sich das fransige, helle Haar aus dem Gesicht und sah uns gelassen an. Selbst quer durch den Raum erkannte ich sie sofort. Seitdem wir gefangen genommen worden waren, war Lucas und mir klar gewesen, zu wem man uns bringen würde. Aber das machte es nicht leichter, ihren Anblick zu ertragen.
Lucas flüsterte: »Charity.«
17
Charity näherte sich uns. Ihre blonden Locken hingen offen herab und ließen sie sogar noch jünger als gewöhnlich aussehen. Sie trug ein ärmelloses, spitzenbesetztes Baumwollkleid, das vermutlich mal weiß gewesen war und nicht, wie jetzt, blutbefleckt und grau. Ihre Füße waren nackt, und der rote Nagellack auf ihren Zehen war überall abgeplatzt. Sie erinnerte mich an ein kleines Kind, das gerade verwirrt und übellaunig aus seinem Mittagsschlaf erwacht war.
»Du hast sie hergebracht«, sagte sie zu Shepherd. »Du hast sie in unser Heim gebracht.«
»Du wolltest doch die Kleine finden, oder? Tö- rö , hier ist sie.« Shepherd grinste. Er hatte offenbar das Gefühl, einen guten Job gemacht zu haben, und registrierte Charitys Unzufriedenheit überhaupt nicht.
Sie zupfte an ihrem Haar herum und runzelte die Stirn. »Und den Jungen hast du auch hergebracht?«
»Stimmt«, sagte Lucas. »Hast du mich vermisst?«
Charity zog ihr Kleid weit genug am Ausschnitt herunter, sodass wir eine pinkfarbene, sternförmige Narbe über ihrem Herzen sehen konnten, die von der Wunde stammte, die Lucas ihr zugefügt hatte, als Evernight niedergebrannt worden war. Wunden, die durchs Pfählen entstanden, bildeten die einzigen dauerhaften Narben, die sich Vampire zuziehen konnten. Charity fuhr die Ränder des Sterns mit dem kleinen Finger nach.
»Ich denke jeden Tag an dich.«
Na großartig , dachte ich. Sie ist von uns beiden besessen . Ich trat zwischen Charity und Lucas, sodass zwischen ihr und mir kaum mehr als ein halber Meter lag. »Was willst du, Charity? Balthazar hat New York inzwischen vermutlich verlassen, also gibt es wohl nichts, was ich dir noch sagen könnte.«
»Ich habe nachgedacht«, sagte sie. »Der beste Weg, Balthazar aufzuspüren, ist … ihn nicht zu suchen. Ihn dazu zu bringen, dass er zu mir kommt. Und wie lässt sich das besser erreichen, als wenn ich ihm etwas nehme, das er begehrt?«
Ein eisiger Schauer lief mir durch den ganzen Körper, als ich begriff, dass sie über mich sprach.
»Ich will mich deinem Clan nicht anschließen«, sagte ich. Meine Stimme klang klar und deutlich und zitterte nicht, obwohl mir eigentlich ganz anders zumute war.
»Wenn Wünsche Pferde wären, würden alle Bettler reiten«, sagte sie.
Das war es also. Es gab keine Möglichkeit zu fliehen. Lucas und ich waren zahlenmäßig unterlegen und eingekreist. Charity würde mich in eine Vampirin verwandeln. Heute Nacht würde ich sterben.
Ich versuchte, mir selbst einzureden, dass das nicht das Schlimmste wäre, was geschehen könnte. Ich hatte den Großteil meines Lebens in der Erwartung verbracht, eines Tages eine Vampirin zu werden. Vielleicht würde ich eine seltsame Verbundenheit mit Charity entwickeln. Das war häufig der Fall zwischen einem neuen Vampir und dem älteren, der für die Verwandlung verantwortlich gewesen war. Aber ich würde noch immer ich selbst sein. Lucas hatte bereits akzeptiert, was ich war, und so würden wir einander auch dann noch lieben können. Es würde gar nicht so schlimm werden, oder?
Aber ich hätte gerne die Wahl gehabt. Ich hätte so gerne mitentschieden, was aus mir werden sollte und in welcher Gestalt ich existieren würde. Ich hatte frei sein wollen – und nun würde ich es nie sein.
»Gut«, sagte ich. Ich blinzelte rasch und hoffte, Charity würde meine Tränen nicht sehen. »Ich kann dich nicht aufhalten. Aber lass Lucas gehen.«
»Bianca«, flehte Lucas. Ich brachte es nicht über mich, mich umzudrehen und ihn anzuschauen.
Stattdessen hielt ich den Blick starr auf Charity gerichtet, deren dunkle Augen sich vor Enttäuschung weiteten. Es war, als ob sie mich froh darüber hatte sehen wollen, dass ich eine Vampirin werden würde. Wie hatte sie so etwas erwarten können? Wie konnte sie nicht wissen, dass ich sie hasste? »Du willst mich zwingen, mich dir anzuschließen? Damit du dich stark fühlen kannst und überzeugt bist, dass du Balthazar etwas nimmst? Dann los.«
»Sie ist nicht Balthazars Mädchen«, sagte Lucas laut. »Sie gehört mir!«
Das war das Schlimmstmögliche, was er hätte sagen können.
»Dir?« Charity klatschte
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