Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
macht so viel Spaß, sie auf dem Sprungbrett zu sehen. Sie weinen und schreien und flehen, doch am Ende entschließen sie sich alle zu springen. Sie reden sich ein, sie hätten eine Chance. Und dann fallen sie. Was für eine Sauerei. Und was für eine Verschwendung von Blut.«
»Du bist ekelerregend«, sagte ich.
»Manchmal brauchen sie Stunden, bis sie sterben. Ein armer Narr hat da unten mal fast eine Woche lang gewimmert. Was glaubst du, wie lange würde Lucas leiden?« Charitys dunkle Augen glitzerten vor Freude bei der Erinnerung an die Schmerzen jenes Fremden. »Sag schon.«
»Es würde sowieso nicht funktionieren. Ich kann keine Vampirin werden, wenn ich nicht ein Leben nehme.«
»Wenn ich dein Blut trinke, wenn ich dich weit genug aussauge, dann wirst du so verzweifelt nach Blut lechzen, dass du den ersten Menschen angreifst, den du siehst. Ich verspreche dir, dass ich dich von deinem Liebsten fernhalten werde, auch wenn es für dich in diesem Zustand keinen Unterschied mehr machen würde.«
Ich dachte daran, wie verrückt ich manchmal nach Blut gewesen war, vor allem, während ich beim Schwarzen Kreuz festgesessen hatte. Und selbst da hatte es Momente gegeben, in denen ich Gefahr gelaufen war, bei Lucas die Kontrolle zu verlieren. Ich zweifelte nicht daran, dass Charity die Wahrheit sagte.
»Tu es nicht«, sagte Lucas. »Sie wird mich trotzdem töten.«
»Das werde ich nicht, Bianca. Ich schwöre es. Du hast mir einmal einen Gefallen getan … Ich erinnere mich daran.« Das scheue, zögerliche Lächeln auf ihrem Gesicht war so mädchenhaft und vertraueneinflößend wie immer. »Du kannst wirklich wählen. Du kannst entweder auf der Stelle von hier verschwinden, gesund und munter, und dein Leben leben als … nun ja, was immer du bist. Wir werden warten, bis du weit genug fort bist, ehe wir ihn fallen lassen, sodass du es nicht hören musst.«
Ich schloss fest die Augen und wünschte mir, woanders zu sein. An irgendeinem anderen Ort.
Charity fuhr fort: »Oder du kannst ein braves Mädchen sein und mich höflich bitten, und wir werden deinen Jungen gehen lassen. Er wird dir natürlich beim Sterben zusehen müssen. Ansonsten würde er es uns nicht glauben. Aber wir werden ihn am Leben lassen. Mein Wort darauf.«
Das Verrückte war, dass ich ihr vertraute. Charity glaubte an Abmachungen und daran, dass man in jemandes Schuld steht. Außerdem war sie eine Sadistin. Wenn sie mich einfach nur in eine Vampirin verwandeln und Lucas sowieso töten wollte oder wenn sie mich dazu bringen wollte, Lucas umzubringen, dann würde sie das sagen und ihr Vergnügen daran haben, mich schreien zu hören. Nein, ich hatte eine wirkliche Chance, Lucas zu retten. Und das bedeutete, dass ich sie würde ergreifen müssen.
Langsam zwang ich mich, »Bitte« zu sagen.
»Bianca, nein!« Lucas wand sich mit aller Kraft in Shepherds Griff, aber er konnte nichts dagegen ausrichten.
Charity warf mir ein sanftes Lächeln zu, als wäre ich das Lieblingskind, das endlich nach Hause gekommen war. »Bitte?«
»Bitte … mach mich zum Teil deines Clans.« War das genug? Nein. Ich hasste jedes Wort. Jeder einzelne Herzschlag fühlte sich wertvoll an, weil ich wusste, dass ich ihn nicht mehr lange würde hören können. Am Boden zerstört dachte ich, dass ich an meinem Geburtstag sterben würde – genau wie Shakespeare, fiel mir ein. Mein Leben sollte mir genommen werden, und ich musste auch noch darum bitten. Für Lucas würde ich flehen. »Bitte mach mich zur Vampirin.«
»Willst du für immer bei mir bleiben?« Charity hatte mir ihre Hände rechts und links auf die Wange gelegt. »Werden wir Schwestern sein? Dann wird Balthazar sehen, dass du mein bist und nicht die Seine. Wir werden es ihm zeigen. Bitte sag Ja . Bitte sag, dass es das ist, was du möchtest.«
Das also war der Grund, warum sie wollte, dass ich sie anflehte. So konnte sie sich selbst davon überzeugen, dass es wahr war und dass sie sich wieder eine Familie schuf. Sie wollte nicht, dass ich zu Balthazar zurückging; sie wollte, dass ich seinen Platz bei ihr einnahm.
Ich begann, so heftig zu zittern, dass ich kaum mehr aufrecht stehen konnte, aber es gelang mir zu sagen: »Ja. Das ist es, was ich möchte. Bitte.«
Sie schob ihre Unterlippe vor wie ein verwöhntes, kleines Kind. »Wenn du es wirklich wolltest, dann würdest du flehen. Dann würdest du auf die Knie fallen.«
Es war undenkbar, dass ich irgendjemanden mehr als sie in diesem Augenblick hassen könnte.
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