Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte

Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte

Titel: Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Gray
Vom Netzwerk:
das Leuchten des Blitzes auch durch meine Augenlider noch sehen. Kalte Regentropfen schlugen mir ins Gesicht, aber ich streckte meine Arme aus und akzeptierte den Sturm als Teil meiner selbst.
    Und dann riss ich die Augen weit auf, als ich meinen Namen hörte. Es war ein Schrei gewesen.
    Jemand steckt in Schwierigkeiten , begriff ich. Mein erster Gedanke galt Lucas, aber diese Stimme inmitten des Donners klang noch vertrauter.
    Sie klang nach meinem Dad.

14

    »Dad«, flüsterte ich. Ich konnte ihn hören, obwohl »hören« eigentlich nicht das richtige Wort war. Es war mehr, als würde ich ihn spüren und seine Angst und Qualen im Krachen des Donners und in der Eiseskälte des Windes, der mich umtoste, fühlen.
    »Willst du zu ihm?« Christopher war nicht anzumerken, ob er diese Idee guthieß oder sie verurteilte; er musterte mich nur wie jemand, der Maß nimmt.
    Würde ich meinem Vater wieder unter die Augen treten können? Konnte ich es wagen, das Risiko einzugehen, dass er mich für immer verstieß oder sich gegen mich wandte?
    Da grollte erneut ein Donnern, und ich spürte wieder die Angst im Herzen meines Vaters, die noch stärker war als meine eigene. Irgendetwas Schreckliches geschah gerade, etwas, das viel wichtiger war als die Antworten, die ich haben wollte. Egal, ob Christopher sich nun gegen mich wenden oder versuchen würde, mich an diesem Ort festzuhalten – ich musste Dad finden, wenn ich es nur irgendwie konnte.
    »Ja«, sagte ich. »Ich gehe.«
    Christopher war nicht wütend, und das war der erste Augenblick, in dem ich das Gefühl hatte, dass ich ihm vielleicht tatsächlich trauen konnte. »Ich hoffe allerdings, dass du zurückkommen wirst.«
    »Das werde ich«, versprach ich ihm. »Ich will noch mehr erfahren.«
    »Und ich will dir noch mehr erzählen.«
    »Wie gelange ich zu meinem Vater?«
    »Wenn die Person, die du liebst, so verzweifelt nach dir verlangt«, erklärte Christopher, »dann wirst du feststellen, dass es unmöglich ist, irgendwo anders zu sein.«
    Bei diesen Worten sah sein Gesicht so traurig aus, dass ich mich fragte, wer sich nach ihm verzehrt hatte. Aber mir blieb nicht viel Zeit, über Christopher nachzugrübeln – nicht, solange Dad in Gefahr war oder was auch immer es war, das seinen Himmel verdunkelte. Ich konnte mich auch nicht länger um mich selber sorgen. Meine Ängste waren nichts als selbstsüchtig gewesen; das verstand ich nun. Dieses Land der verlorenen Dinge ließ mich alles – ob ich es nun sehen konnte oder nicht – mit absoluter Klarheit begreifen.
    Ich schloss meine Augen und dachte an meinen Vater. Zum ersten Mal seit Monaten, ja zum ersten Mal seit meinem Tod, dachte ich nicht nur als Bild an ihn. Stattdessen ließ ich zu, dass die Erinnerung an ihn mein ganzes Herz ausfüllte. Ich ließ den Gedanken daran zu, wie er mich im Bett zugedeckt hatte, als ich noch ein Kleinkind gewesen war. Ich sah ihn, wie er eng umschlungen mit Mom tanzte, während auf der alten Stereoanlage Dinah Washington lief. Oder wie er mit den Nachbarn in Arrowwood plauderte, weil er sich gerne in ihre Gesellschaft einfügen wollte. Mir fiel ein, wie er mich zum Strand gebracht hatte, den ich so liebte, obwohl er selber das Sonnenlicht verabscheute. Er hasste es, frühmorgens aufstehen zu müssen, und ihm standen seine Haare immer in alle Richtungen ab. Ich sah ihn, wie er mit meiner alten Ken-Puppe seine eigene Auferstehung von den Toten nachspielte, obwohl seine Zuschauer nur aus einem höchst interessierten kleinen Mädchen und einer Reihe sehr überraschter Barbiepuppen bestanden. All diese Eindrücke fügten sich zu meinem Dad zusammen.
    Als ich meine Augen aufschlug, war er dort. Oder besser gesagt, war ich bei ihm in Evernight. Die Nacht war hereingebrochen, aber ich konnte nur mutmaßen, wie viel Zeit verstrichen sein mochte, seitdem ich weggegangen war. Für mich hatte es sich nur wie Minuten angefühlt, aber es konnten genauso gut Stunden oder Tage gewesen sein. Mein Vater stand in der Mitte der Schülerbücherei.
    Die Bibliothek !, dachte ich voller Angst, und ich erinnerte mich an die Falle, die dort aufgestellt war. Doch Lucas hatte sie ja entfernt, und vielleicht war sie danach nicht ersetzt worden.
    Mir ging es gut. Mein Vater jedoch hatte die Arme um den Körper geschlungen, als wolle er sich gegen einen Sturm zur Wehr setzen. Nein, nicht »als wolle er«, sondern im Raum war tatsächlich ein orkanartiger Sturm aufgekommen, dessen Böen eisig kalt waren. Ich begriff,

Weitere Kostenlose Bücher