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Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte

Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte

Titel: Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Gray
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schreien begannen. Skye kam aus der Dusche und ließ beinahe ihr Handtuch fallen, und ich konnte sehen, wie sich an ihren nassen Haarspitzen Eiszapfen bildeten. Entschuldigung , dachte ich eher beiläufig. Ich konnte im Augenblick auf niemanden Rücksicht nehmen, denn ich musste zu meinem Dad.
    Vermutlich dauerte mein Weg zur Bücherei nicht länger als einige Minuten, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Als ich meinen ganzen Körper rasch durch das Holz der Tür gleiten ließ, konnte ich blaue Lichter sehen, die aus dem Inneren eines riesigen Eiskäfigs herausblitzen und über das gefrorene Äußere tanzten. Und irgendwo inmitten dieses knackenden, funkelnden Gefängnisses saß mein Dad fest. Ich schob mich durch die Eisschicht in das Herz des Frostkerkers.
    Zu meinem Entsetzen sah ich Dad dort, der taumelte und sich in einem beinahe unvorstellbaren Winkel nach hinten gebeugt hatte, während er verzweifelt gegen eine Eisfaust ankämpfte, die tief in seiner Brust wühlte.
    Der Geist kicherte. »So dumm. So dumm.«
    »Weg von ihm!«, brüllte ich. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, warf ich mich mit aller Macht von der Seite gegen den Geist. Doch dieser wurde einfach etwas durchscheinender, sodass ich geradewegs hindurchfiel. Immerhin hatte ich ihn damit kurz abgelenkt; der Geist zog die Faust aus der Brust meines Vaters und wandte sich zu mir um.
    Es war das hässlichste Ding, das ich je gesehen hatte. Zuerst glaubte ich, es wäre einfach alt, aber so sahen alte Menschen nicht aus. Das »Fleisch« des Körpers, den der Geist ausgebildet hatte, schien nicht mehr richtig zu passen. Die Unterlider waren so weit hinabgesunken, dass ich die kompletten Augäpfel sehen konnte, und die Lippen hingen herunter bis übers Kinn. Ich wich zurück, bis ich die Eiswand in meinem Rücken spürte, doch auch wenn ich mich einfach hätte weiterschieben können, hätte das bedeutet, Dad im Stich zu lassen.
    In diesem Moment hörte ich eine leise, ungläubige Stimme: »Bianca?«
    Dad ! Aber ich konnte ihn jetzt nicht anschauen, denn der Geist musste sich auf mich konzentrieren und durfte seine Aufmerksamkeit nicht wieder Dad zuwenden. Die runden, unheimlichen Augen des Geistes leuchteten auf, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, als ob hinter ihnen Gasflammen flackern würden. Ich hatte nicht geahnt, dass wir so etwas tun konnten, und legte eigentlich auch keinen großen Wert auf ein solches Wissen. »Ein Baby«, sagte der Geist.
    »Es mag dich überraschen, aber ich schwöre dir, ich kann …« Ja, was konnte ich denn? »Ich kann dir jeden einzelnen Tag zur Hölle machen, wenn du meinen Vater nicht in Ruhe lässt.«
    »Du kannst uns dorthin bringen«, sagte der Geist und schlurfte mit einem Eifer näher, der etwas Kindliches an sich hatte, was den Anblick aber nur noch verstörender machte.
    War es das, wovon Christopher gesprochen hatte? Sollte es wirklich meine Aufgabe sein, solchen gruseligen Wesen zu helfen? Mit einem Mal fühlte ich mich schlecht. Wenn es mir nicht möglich gewesen wäre, einen Körper auszubilden und wieder mit den Leuten in Kontakt zu treten, die mich liebten, dann wäre ich vielleicht genauso abstoßend geworden. Wenn dieser Geist es schaffen würde, in das Land der verlorenen Dinge zu gelangen, würde er möglicherweise aufhören, so unheimlich zu sein, und wieder wie sein altes Ich aussehen. Ich hatte wohl geglaubt, dass die Arbeit mit toten Menschen immer nur angenehm sein würde – vor allem, wenn man an einige der toten Leute dachte, die ich bereits kennengelernt hatte. Das war dumm von mir gewesen.
    »Ich werde dich dort hinbringen«, versprach ich. Zwar wusste ich noch nicht so ganz genau, wie ich das anstellen sollte, aber ich hatte bereits begriffen, dass mir Christopher anfangs dabei würde helfen können. »Lass diesen Mann einfach in Ruhe, okay? Wir können uns sofort zusammen auf den Weg machen.«
    Der Geist zögerte. Vielleicht konnte er sein Glück nicht fassen.
    Doch dann wurden seine flammenden Augen schmal, bis sie nur noch Schlitze waren, hinter denen ein unirdisches, blaues Feuer loderte. »Er kann nicht einfach wegrennen«, zischte er. »Nicht nach dem, was er getan hat.«
    »Es interessiert mich nicht, was er getan hat. Das spielt keine Rolle. Du kannst diesen Ort jetzt verlassen. Ist das nicht viel wichtiger?«
    Der Geist antwortete mir nicht. Ich vermutete, dass er nachdenken musste. Er war zwischen Hoffnung und Hass hin- und hergerissen und momentan nicht in der Lage,

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