Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
sich für das eine oder das andere zu entscheiden.
Mit sanfterer Stimme fügte ich hinzu: »Da, wo wir jetzt hingehen … kann es wunderschön sein. Es ist auf jeden Fall besser, als in einer Schule herumzuspuken. Das musst du dir ansehen. Los, komm schon.« Ich zwang mich, dem Geist meine Hand entgegenzustrecken, obwohl dessen Finger knochig waren und wie Klauen wirkten.
Der Geist verharrte noch einen weiteren Moment lang. Ich wagte es, einen kurzen Blick zu meinem Vater zu werfen, und wünschte mir sofort, ich hätte es nicht getan: Ihm liefen die Tränen die Wangen herunter, während er mich ansah, und ich glaubte, er würde deshalb weinen, weil ich mich in etwas Entsetzliches verwandelt hatte: etwas wie die Kreatur, die gerade versucht hatte, ihm Schlimmes anzutun.
Dann kreischte der Geist mit einem Mal wutentbrannt auf: »Er darf nicht. Er darf nicht davonkommen.«
Der Hass hatte gesiegt.
Der Geist machte einen Satz auf meinen Vater zu, und ich versuchte, mich zwischen die beiden zu schieben. Zwar konnte ich den Geist nicht aufhalten, aber es war, als ob wir uns irgendwie ineinander verstrickten; keiner von uns hatte eine wirklich feste Gestalt, und wir hatten beide verschwommene Umrisse. Es war wie Ketchup und Mayonnaise auf einem Sandwich: eine vermischte, klebrige Masse. Das Innere des Geistes umhüllte mein eigenes Gemüt, kränker und trauriger, als mir klargewesen war, und ich schauderte voller Abscheu.
»Lass mich los!« Ich stieß den Geist von mir weg, und es funktionierte. Er sprang über unsere Köpfe in die Luft, ein zusammengerollter, blauer Streifen von Elektrizität unmittelbar unter der Decke. Vor meinem geistigen Auge formte sich das Bild, wie dieser Geist blitzartig auf uns niederfahren würde. Wen würde er zuerst treffen? Meinen Dad oder mich? Und was würde daraufhin geschehen?
Dann schrie der Geist mit einem mitleiderregenden Laut auf und löste sich in bläulichen Rauch auf, der in Richtung Bibliothekstür davonwirbelte. In der gleichen Sekunde ging das Licht aus, und nun herrschte Stille.
Ich ahnte, was geschehen sein musste. »Patrice?«, schrie ich.
»Er steckt in meiner neuen Puderdose«, rief sie von der anderen Seite des Eises aus. »Das ist eine Laura-Mercier-Dose. Dieses Ding da sollte sie lieber nicht kaputtmachen.«
Dann hörte ich Vic verblüfft auflachen. »Das war so unglaublich cool.«
»Ich versuche mein Bestes«, antwortete Patrice.
Mein Vater und ich waren noch immer von dicken Wänden aus Eis umgeben. Auch wenn ich davon ausging, dass sie nach und nach abschmelzen würden, gefiel mir die Vorstellung überhaupt nicht, Dad hier allein zurückzulassen, bis man ihn am nächsten Morgen finden würde. »Könnt ihr uns hier herausholen?«
»Ja, warte mal.« Vic klang aufgeregt. »Ich werde die Notfall-Axt benutzen, die neben dem Feuerlöscher hängt. Dann kann ich gleich ein wenig von Ranulfs Schlagrepertoire ausprobieren.«
Als ich hörte, wie die beiden auf den Flur hinausgingen, um die Axt zu holen, wusste ich, dass ich es nun nicht mehr länger hinauszögern konnte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und drehte mich herum, um meinem Vater ins Gesicht zu sehen.
»Bianca«, wiederholte er. Seine Wangen waren feucht von Tränen. »Bist … du es wirklich?«
»Mhhm.« Meine Stimme klang so piepsig. »Dad, es tut mir alles so leid.«
»Leid?« Dad packte mich und drückte mich so fest an sich, dass mein nur halbfester Körper sich beinahe aufgelöst hätte, aber dann schaffte ich es doch, ihn zu halten. »Mein kleines Mädchen. Dir muss überhaupt nichts leidtun. Du bist hier. Du bist wirklich hier.«
Und ich wusste, dass es ihm egal war, ob ich ein Geist war oder wie dumm ich gewesen war und mit so vielen Dingen unrecht gehabt hatte oder dass wir während unseres letzten Gespräches gestritten hatten. Mein Dad liebte mich noch immer.
Wenn ich hätte weinen können, so hätte ich es getan. Gleichzeitig breitete sich tiefe Freude in mir aus und erfüllte mich mit Licht und Wärme. Es war ein sanftes Glühen wie bei einer Kerze, und ich konnte spüren, wie es den Schmerz meines Vaters linderte. »Ich habe dich vermisst«, flüsterte ich. »Ich habe dich und Mom so schrecklich vermisst.«
»Warum bist du denn nicht zu uns gekommen?«
»Ich hatte Angst, dass ihr mich nicht mehr würdet haben wollen. Jetzt, wo ich ein Geist geworden bin.«
»Du bist unsere Tochter. Und daran wird sich auch nie etwas ändern.« Dads Gesicht war voller Gram. »Wir haben sie immer
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