Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
dass Dad in der Falle saß. Eis hatte sich zwischen den Buchregalen gebildet, sodass ein drei Meter hohes Gletscherlabyrinth entstanden war, in dessen Mitte mein Vater stand, ohne einen Ausweg zu finden. Eine blaugrau schimmernde Gestalt war nur mit Mühe in der Ecke zu erkennen; sie war dürr, ja fast schon knochig, sehr alt und beinahe kahlköpfig. Ich konnte nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Auf jeden Fall aber war es ein Geist.
»Der Vampir versucht es«, wisperte das Ding in einer Stimme, die wie knackendes Eis klang. Ich erkannte die Gestalt wieder: Es war einer der Verschwörer. »Er versucht es, denn er ist zu dumm zu begreifen, was er damit Schlimmes anrichtet.«
Dad antwortete: »Du wirst eingesogen werden. Du kannst nicht für immer widerstehen.«
Doch er klang nicht so, als glaubte er daran. Seine Augen blickten weder zornig noch verängstigt, sondern einfach nur traurig, und in ihnen lag der Ausdruck, den ich gesehen hatte, als ich nach Evernight zurückgekehrt war und ihn auf dem Sofa vorgefunden hatte. Ich hatte ihn auch bei Lucas bemerkt, als er in den tödlichen Kampf gegen Charity aufgebrochen war. Und ich ahnte, warum Dad an mich gedacht und nach mir gerufen hatte. Mein Vater glaubte, dass er seinen letzten Kampf ausfechten würde.
Er hatte versucht, diesen Geist in eine Falle zu locken, dämmerte mir, denn ich konnte eines der kupferfarbenen Muschelkästchen vor seinen Füßen liegen sehen. Es war in zwei Teile zerbrochen und nun offenbar wirkungslos. Warum half Dad Mrs. Bethany?
Aus dem Flüstern des Geistes wurde ein Kichern. »Werde ihn einfrieren. Ihn zerbrechen. Kein Lärm mehr in meinem Kopf.«
Dads Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, weil er vermutlich keine Ahnung hatte, wovon der Geist sprach. Ich jedoch wusste es, denn ich selbst hatte diese Fähigkeit eingesetzt: die Fähigkeit, ins Innere eines Vampirs zu gelangen und seinen Körper zu Eis werden zu lassen. Ich hatte gesehen, in welchem Maße dieser Vorgang einem Vampir schaden konnte, und ich zweifelte nicht daran, dass er Dad töten würde.
Der Geist kam näher, der übelwollende Geist aus meinen schlimmsten Albträumen, die Verkörperung all dessen, was mir an Geistern noch immer Angst einjagte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, denn ich war mir nicht sicher, ob ich irgendwelche Macht über andere Geister hatte. Konnte diese Gestalt mir ebenso schaden wie meinem Vater? Was sollte ich nur tun?
In diesem Moment fielen mir mein Korallenarmband und der Aktenraum ein, und ich materialisierte mich dort. Vic saß auf seinem Knautschsessel und las einen Comic. Er verschluckte sich, denn er hatte den Mund voll Limonade gehabt, und schnappte nach Luft, als ich plötzlich auftauchte. »Mensch, Bianca, du musst einen doch vorwarnen.«
Ich hatte gehofft, Lucas oder Balthazar vorzufinden, aber ich würde jede Hilfe nehmen müssen, die ich kriegen konnte. Selbst ein simples Stören könnte dafür sorgen, dass sich der Geist zurückzog. »Mein Dad ist in Schwierigkeiten. Du musst in die Bibliothek! Schnell!«
In der nächsten Sekunde schon dachte ich an den Gargoyle vor meinem früheren Fenster, und schon war ich dort und schwebte vor meinem alten Zimmer. Es war die Sache wert, meiner Mutter einen Mordsschreck einzujagen, wenn sie das dazu bringen würde, in die Bücherei zu stürzen, um meinem Vater zu Hilfe zu kommen. Aber sie war nicht da. Entmutigt glitt ich an den Steinen hinab und suchte nach einem vertrauten Gesicht. Zum Glück stieß ich auf Patrice, die allein war und gerade ihren Fingernägeln mal wieder den letzten Schliff verpasste.
Sofort war mir klar, dass ich sie gebrauchen konnte. Ich überzog das Fensterglas mit Eis, und zwar so rasch, dass es in der Fassung wackelte. Patrice riss den Flügel auf und steckte den Kopf heraus. »Bianca?«
»In die Bücherei. Und bring deine Puderdose mit dem Spiegel darin mit. Jetzt gleich!«
Ich musste zurück zu Dad. Aber das Band, an dem entlang ich zuvor gereist war, war nun zerrissen: Diese Art von Verkettung schien in der Welt der Sterblichen nicht zu funktionieren. Ich würde den langen Weg nehmen müssen. Die einzige Möglichkeit, unterwegs keine Spur aus Eis zu hinterlassen, wäre gewesen, mich zu beruhigen und mich langsamer zu bewegen, aber dafür war keine Zeit.
Ich schoss durch Patrices Zimmer und den Flur hinunter, und ich ignorierte das Eis und das gespenstische blaue Licht, das mich umwaberte, selbst als die anderen Schüler zu
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