Evernight Bd.1 Evernight
obwohl ich wusste, dass sie mich nicht als Erste aufrufen würde. Ich wollte nur ganz sichergehen, dass sie wusste, wie es mir mit der Aussicht darauf ging. Ein Junge neben mir hob die Hand und erlöste uns andere damit. Mum lächelte ihn an. »Und Sie sind Mr….?«
»More. Balthazar More.«
Das Erste, was es über ihn zu sagen gab, war die Tatsache, dass er tatsächlich wie ein Typ aussah, der den Namen »Balthazar« tragen konnte, ohne ununterbrochen damit aufgezogen zu werden. Zu ihm passte er. Er schien auf alles vorbereitet zu sein, was meine Mutter auf seine Ausführungen erwidern könnte, aber nicht auf die nervige Weise der meisten anderen Typen im Raum. Er war einfach selbstbewusst.
»Nun, Mr. More, wenn Sie die Gründe für die Amerikanische Revolution für mich zusammenfassen sollten, was würden Sie dann zuerst nennen?«
»Die vom englischen Parlament auferlegte Steuerlast brachte das Fass zum Überlaufen.« Er sprach leichthin, beinahe ein bisschen gelangweilt. Balthazar war groß und breitschultrig, und zwar so, dass er nicht richtig an den altmodischen Holztisch, an dem er saß, passte. Mit seiner Haltung machte er jedoch das Beste aus der Situation, und es wirkte, als würde er sich immer so hinlümmeln, anstatt aufrecht zu sitzen. »Natürlich ging es den Leuten auch um religiöse und politische Freiheit.«
Mum hob eine Augenbraue. »Also sind Gott und die Politik zwar mächtig, aber wie immer regiert Geld die Welt.« Leises Lachen lief durch den Raum. »Vor fünfzig Jahren hätte kein amerikanischer Highschool-Lehrer die Steuern erwähnt. Und vor hundert Jahren hätte sich die gesamte Unterhaltung um Religion gedreht. Vor hundertfünfzig Jahren wäre die Antwort davon abhängig gewesen, wo Sie leben. Im Norden hätte man Ihnen beigebracht, was politische Freiheit bedeutet. Im Süden hätte man Sie über wirtschaftliche Freiheit belehrt - was ohne Sklavenhandel unmöglich war.« Patrice schnaubte. »In Großbritannien gab es natürlich jene, die die Vereinigten Staaten von Amerika als ein seltsames, intellektuelles Experiment angesehen haben, das zum Scheitern verurteilt war.«
Nun lachten mehrere Schüler, und mir wurde klar, dass Mum bereits die gesamte Klasse auf ihrer Seite hatte. Selbst Balthazar konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, das mich beinahe Lucas vergessen ließ.
Allerdings nur beinahe. Aber es machte Spaß, ihn und sein lässiges Grinsen zu beobachten.
»Und ich möchte, dass Sie genau diesen Teil der Geschichte begreifen.« Mum schob die Ärmel ihrer Strickjacke hoch und schrieb an die Tafel: Sich entwickelnde Deutung . »Die Vorstellung der Leute von der Vergangenheit verändert sich in gleichem Maße wie die Gegenwart. Das Bild im Rückspiegel ist in jeder einzelnen Sekunde ein anderes als vorher. Um die Geschichte zu verstehen, reicht es nicht aus, Namen, Orte und Jahreszahlen zu kennen, und viele von Ihnen kennen eine Menge davon, da bin ich mir sicher. Aber Sie müssen die unterschiedlichen Interpretationen zusammentragen, die die historischen Ereignisse im Laufe der Jahrhunderte erfahren haben. Das ist die einzige Möglichkeit, eine Perspektive zu entwickeln, die den Prüfungen der Zeit standhalten kann. Einen Großteil unserer Energie in diesem Jahr werden wir auf diesen Ansatz verwenden.«
Die Schüler beugten sich vor, schlugen ihre Notizblöcke auf und hingen Mum fasziniert an den Lippen. Siedend heiß fiel mir plötzlich ein, dass ich vielleicht ebenfalls anfangen sollte, mir Aufzeichnungen zu machen. Auch wenn Mum mich lieber als die anderen hatte, würde sie mich möglicherweise schneller als jeden anderen im Klassenraum durchrasseln lassen.
Die Stunde verflog mit den Fragen der Schüler, die Mum offenbar auf die Probe stellen wollten, jedoch schien ihnen zu gefallen, was sie zu sehen und zu hören bekamen. Ihre Stifte kratzten übers Papier, und ich konnte mir einfach nicht erklären, wie man so schnell schreiben konnte. Mehr als einmal fühlten sich meine Finger an, als ob ich einen Krampf bekommen würde. Mir war nicht klar gewesen, wie stark die Schüler auf Konkurrenz aus waren. Nein, das stimmte eigentlich nicht, denn es war ganz offensichtlich, dass sie in Sachen Kleidung, Besitz und romantischen Vorlieben miteinander konkurrierten. Diese Gier flirrte in der Luft um sie herum. Ich hatte nur nicht bemerkt, dass sie sich auch in ihren Schulleistungen aneinander maßen. Egal in welcher Hinsicht: In Evernight wollte jeder in allem, was er tat, der Beste
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