Evernight Bd.1 Evernight
bringen, unter dem Haarband zu bleiben. Sicherlich würde ich irgendwann im Laufe des Tages auf Lucas stoßen, also wollte ich das Beste aus meinem Aussehen machen, jedenfalls das Beste, was diese blöde Uniform hergab.
Wir standen in einer schier endlosen Reihe in der großen Halle, um die Einteilung in die jeweiligen Kurse abzuwarten; vermutlich war das schon vor hundert Jahren so gewesen. Die Schülermassen waren weniger unruhig, als sie es in meiner alten Schule gewesen wären. Jeder schien zu wissen, was von ihm erwartet wurde.
Vielleicht war diese Ruhe auch nur eine Illusion. Mein eigenes Unbehagen schien alle Geräusche zu schlucken, alles zu dämpfen, bis ich mich fragte, ob mich überhaupt jemand hören würde, wenn ich schrie.
Zunächst blieb ich mit Patrice zusammen, aber nur, weil wir unseren ersten Kurs, amerikanische Geschichte, gemeinsam hatten. Meine Mutter würde uns unterrichten. Von meinen beiden Eltern würde ich nur sie als Lehrerin haben; anstatt Dads Biologiekurs zu wählen, hatte ich mich für Chemie bei Professor Iwerebon entschieden. Es war komisch, neben Patrice herzulaufen, ohne etwas zu sagen, aber mir blieb gar nichts anderes übrig - bis ich endlich Lucas sah. Das Sonnenlicht, das durch das raureifbeschlagene Fenster des Flures fiel, ließ seine goldbraunen Haare wie Bronze strahlen. Erst hatte ich geglaubt, er hätte Patrice und mich gesehen, aber er lief weiter, ohne langsamer zu werden.
Ich lächelte. »Ich sehe zu, dass ich dich gleich wieder einhole, in Ordnung?«, fragte ich Patrice, schoss allerdings im gleichen Augenblick davon, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie zuckte mit den Schultern, als sie sich nach jemand anderem umsah, dem sie sich anschließen konnte.
»Lucas?«
Eigenartigerweise schien er mich nicht zu hören. Da ich ihm nicht noch mal hinterherbrüllen wollte, nahm ich einige Stufen im Laufschritt, um ihn einzuholen. Er war auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung von Patrice und mir und wollte offenbar nicht in Mums Unterricht, aber ich war bereit, das Risiko einzugehen und zu spät zu kommen. Diesmal rief ich lauter: »Lucas!«
Er drehte kurz den Kopf, um mir einen Blick zuzuwerfen, dann schaute er sich nach den anderen Schülern in der Nähe um, als befürchte er, man könne uns belauschen. »Hey, na du?«
Wo war mein Beschützer aus dem Wald? Der Typ, der nun vor mir stand, benahm sich nicht gerade so, als wolle er sich um mich kümmern; er tat vielmehr so, als würde er mich gar nicht kennen. Aber er kannte mich ja eigentlich auch gar nicht, oder? Wir hatten einmal im Wald miteinander gesprochen, als er versucht hatte, mein Leben zu retten, und ich hatte mich damit revanchiert, dass ich sagte, er solle den Mund halten. Nur weil ich der Meinung war, das wäre der Anfang von etwas Großartigem, bedeutete das noch lange nicht, dass er das genauso sah.
Tatsächlich sah es definitiv ganz anders aus. Eine Sekunde lang drehte er den Kopf zu mir, dann winkte er kurz und nickte, so wie man einer flüchtigen Bekanntschaft zunickt. Danach setzte Lucas einfach seinen Weg fort, bis er in der Menge verschwunden war.
Er hatte mich also auflaufen lassen! Ich fragte mich, wie es möglich war, dass ich Jungs sogar noch weniger verstand, als ich es bislang für möglich gehalten hatte.
Die Mädchentoilette auf dieser Etage war ganz in der Nähe, sodass ich mich in einer Kabine verkriechen und mich wieder einkriegen konnte, anstatt in Tränen auszubrechen. Was hatte ich nur falsch gemacht? Egal wie seltsam unser erstes Treffen gewesen war: Lucas und ich hatten am Ende doch eine Unterhaltung geführt, die so vertraut war, als wäre ich mit einem meiner besten Freunde zusammen. Vielleicht wusste ich nicht viel über Jungs, aber ich war mir ganz sicher gewesen, dass die Nähe zwischen uns echt gewesen war. Da hatte ich mich wohl getäuscht. Ich war wieder ganz allein in Evernight, und es fühlte sich noch viel schlimmer an als vorher.
Als ich mich wieder beruhigt hatte, rannte ich zu Mums Klassenraum, was allerdings trotzdem nicht mehr ausreichte, um pünktlich einzutreffen. Sie warf mir einen Blick zu, und ich zuckte mit den Schultern, als ich mich an einen Tisch in der letzten Reihe sinken ließ. Mum wechselte nahtlos vom Mutter-Modus in den Lehrerinnen-Modus.
»Also, wer von euch kann mir irgendetwas über die Amerikanische Revolution erzählen?« Mum verschränkte die Hände und sah sich erwartungsvoll im Klassenraum um. Ich machte mich kleiner auf meinem Stuhl,
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