Evernight Bd.1 Evernight
das gefallen würde.«
»Da könntest du recht haben«, sagte ich. »Ich werde mal in der Bibliothek danach Ausschau halten. Und… danke. Für den Tipp, meine ich.« Und , dachte ich, dafür, dass du so von mir denkst.
»Gern geschehen.« Balthazar grinste, was das Grübchen in seinem Kinn wieder zum Vorschein brachte, aber in ebendiesem Augenblick hörten wir beide Courtneys Lachen ganz in der Nähe. Er warf mir einen gespielt entsetzten Blick zu, der mich zum Lachen brachte. »Ich muss weg.«
»Schnell!«, flüsterte ich, und schon schoss er den nächsten Flur hinunter. Auch wenn mir Balthazars Versuch, mir Mut zu machen, geholfen hatte, fühlte ich mich nach Mrs. Bethanys »Inquisition« noch immer ganz durch die Mangel gedreht. Ich entschloss mich, einen kurzen Spaziergang übers Schulgelände zu machen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen und zur Ruhe zu kommen, ehe wir aßen. Vielleicht würde ich einige kostbare Minuten lang nur für mich allein sein.
Unglücklicherweise war ich weit davon entfernt, als Einzige auf diese Idee gekommen zu sein. Viele Schüler streiften draußen umher, hörten Musik und unterhielten sich. Mir fielen einige Mädchen auf, die in einer Gruppe im Schatten saßen, und offenkundig machte sich keine von ihnen auf den Weg zurück in ihr Zimmer, um dort zu essen. Vermutlich waren sie gerade auf irgendeiner Diät für den Herbstball, dachte ich, während ich ihnen zusah, wie sie im Schatten der alten Ulmen miteinander flüsterten.
Es gab nur eine einzige Person auf dem ganzen Gelände, mit der ich gern zusammentraf. Ich erkannte den Typen vom ersten Schultag und nach Lucas’ Beschreibung wieder.
»Vic?«, rief ich.
Vic grinste mich an. »Genau.«
Man hätte glauben können, wir wären alte Freunde und würden uns nicht gerade zum ersten Mal unterhalten. Seine weichen, sandbraunen Haare guckten an den Seiten unter der Phillies-Mütze, die er trug, hervor, und er hatte einen iPod in orange-grüner Hülle bei sich.
Als er neben mir auftauchte und seine Kopfhörer aus den Ohren zog, sagte ich: »Hey, hast du Lucas gesehen?«
»Dieser Typ, Mann, der spinnt.« In Vics Welt klang »der spinnt« auf alle Fälle wie ein Kompliment. »Er hat sich einfach verdrückt, und ich hab noch so gefragt, hey was hast du denn vor? Er sollte ja eigentlich’n Auge auf mich haben, und jetzt isses eben umgekehrt, aber du wirst ihm ja wohl keinen Stress machen. Du bist cool.«
Da Vic und ich vorher noch nie miteinander gesprochen hatten, wie konnte er da schon wissen, dass ich cool war? Dann fragte ich mich, ob Lucas das vielleicht über mich gesagt hatte, und musste lächeln. »Weißt du, wo er steckt?«
»Wenn ein Lehrer mich fragt, dann weiß ich von gar nichts. Aber da du’s bist, denke ich, es könnte mit dem Kutscherhaus zusammenhängen.«
Das Kutscherhaus lag im Norden in der Nähe des Sees. Früher, in den alten Zeiten, waren dort die Pferde und Kutschen untergebracht gewesen. Nun befanden sich dort die Büros der Evernight-Verwaltung und Mrs. Bethanys Wohnung. Was konnte Lucas dort verloren haben?
»Ich denke, ich mach mich mal in die Richtung da auf«, sagte ich. »Ich mache’nen Spaziergang. Nichts Besonderes.«
»Oh, alles klar«, sagte Vic langgezogen und nickte, als hätte ich etwas wirklich Anstößiges gesagt. »Du hast es kapiert.«
Nicht gerade der Hellste , dachte ich, als ich wie beiläufig in Richtung Kutscherhaus schlenderte. Trotzdem schien Vic ein netter Kerl zu sein. Kein bisschen der Evernight-Typ, Gott sei Dank. Niemand bemerkte mich, als ich mich von den anderen Schülern entfernte. Ich schätzte, das war das einzige Gute daran, wenn man keinerlei Aufmerksamkeit wert war: Man konnte sich viel leichter davonstehlen.
Es gab hier keinen Wald, der mir Schutz geben konnte, nur weichen Grasboden voller Klee, und einige wenige Bäume in regelmäßigen Abständen, die wahrscheinlich vor langer Zeit gepflanzt worden waren, um Schatten zu spenden. Im Unterholz sah ich ein kleines, totes Eichhörnchen, das nur noch ein verrunzeltes Stückchen seines früheren Selbst war. Der Wind bauschte traurig seinen Schwanz auf. Ich rümpfte die Nase und versuchte, den Kadaver zu ignorieren, indem ich mich stattdessen auf meine Suche konzentrierte. Ich lief langsamer und bemühte mich, leiser zu sein, in der Hoffnung, Lucas irgendwo hören zu können.
Das Kutscherhaus war ein langes, weißes, eingeschossiges Gebäude. Wahrscheinlich hatte es wenig Sinn gemacht, eine zweite Etage
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