Evernight Bd.1 Evernight
des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts dafür Verwendung fanden.« Das Klackern von Mrs. Bethanys Schuhen auf dem Fliesenboden schien unnatürlich laut, als sie auf mich zukam. Raquel hatte sie offenbar vergessen. Der Geruch von Lavendel wurde stärker. »Finden Sie den Stil antiquiert? Überkommen?«
Warum hatte ich bloß meine Hand gehoben?
»Es ist nur kein rasch fortschreitender Roman, das ist alles, was ich sagen wollte.«
»Schnelligkeit ist natürlich das Kriterium, nach dem Literatur gewöhnlich zu beurteilen ist.« Vereinzeltes Kichern bewirkte, dass ich unbehaglich auf dem Stuhl herumrutschte. »Vielleicht wollen Sie Ihre Klassenkameraden fragen, warum irgendjemand dieses Buch lesen sollte?«
»Wir beschäftigen uns mit Folklore«, warf Courtney ein. Sie wollte mir jedoch nicht zu Hilfe kommen, sondern einfach nur angeben. Ich fragte mich, ob sie mir eins auswischen oder vor allem Balthazar auf sich aufmerksam machen wollte. Seit Tagen schon achtete sie sorgsam darauf, dass ihr Kilt ihre Beine so vorteilhaft wie möglich zur Geltung brachte, wenn sie sich setzte, doch bislang schien er davon unbeeindruckt.
»Ein immer wieder auftretendes Motiv in der Folklore überall auf der Welt ist der Vampir.«
Mrs. Bethany nickte Courtney knapp zu. »In der modernen, westlichen Kultur ist kein Vampirmythos berühmter als der von Dracula. Was gibt es also für einen besseren Ausgangspunkt für uns?«
Ich überraschte alle und mich am meisten, als ich sagte: » Die Zähmung des Widerspenstigen .«
»Wie bitte?« Mrs. Bethany hob die Augenbrauen.
Niemand in Raum schien zu verstehen, worauf ich hinauswollte, wenn man von Balthazar absah, der sich unverhohlen auf die Lippe biss, um nicht loszuprusten.
» Die Zähmung des Widerspenstigen, The Turn of the Screw. Jene Novelle von Henry James über Gespenster - oder doch zumindest ansatzweise über Gespenster.« Ich wollte die alte Debatte darüber, ob der Hauptcharakter wahnsinnig war oder nicht, nicht wieder neu entfachen. Gespenster hatte ich schon immer wirklich gruselig gefunden, aber es war leichter, ihnen in einem Roman gegenüberzutreten als Mrs. Bethany in Fleisch und Blut. »Gespenster sind in der Folklore sogar noch verbreiteter als Vampire. Und Henry James ist ein besserer Schriftsteller als Bram Stoker.«
»Wenn Sie einmal einen Kursverlauf planen sollten, Miss Olivier, dann können Sie mit Gespenstern beginnen.« Die Stimme meiner Lehrerin hätte Glas schneiden können. Ich musste ein Frösteln unterdrücken, als sie sich vor mir auftürmte mit einem Gesicht, das versteinerter war als das jedes Gargoyles. »Also, wir werden damit anfangen, uns mit Vampiren zu beschäftigen. Wir werden lernen, wie unterschiedlich die Vampire im Laufe der Zeit in den verschiedenen Kulturen dargestellt wurden, und zwar von der frühen Vergangenheit bis zum heutigen Tag. Wenn Sie das langweilig finden, seien Sie unbesorgt. Wir kommen selbst für Sie noch früh genug zu Gespenstern.«
Danach wusste ich, dass ich besser den Mund zu halten und ruhig zu sein hatte.
Nach dem Unterricht auf dem Flur fühlte ich mich zittrig von diesem seltsamen Gefühl der Schwäche, das immer auf eine Demütigung folgte, und bahnte mir lang sam den Weg durch den Pulk von Schülern. Es schien, als ob jeder außer mir einen Freund oder eine Freundin an der Seite hatte, mit dem oder der er herumalberte. Raquel und ich hätten uns gegenseitig trösten können, aber sie hatte sich bereits vom Acker gemacht.
Dann hörte ich jemanden sagen: »Noch eine Henry-James-Leserin.«
Ich drehte mich um und sah Balthazar, der plötzlich neben mir herging. Vielleicht war er gekommen, um mir seine Unterstützung anzubieten, vielleicht wollte er aber auch nur Courtney aus dem Weg gehen. Was auch immer, ich war froh, ein freundliches Gesicht zu sehen.
»Also ich habe Die Zähmung des Widerspenstigen und Daisy Miller gelesen. Das war’s allerdings auch schon.«
»Versuch es doch irgendwann mal mit Porträt einer Dame . Ich glaube, das könnte dir gefallen.«
»Wirklich? Warum?« Ich erwartete, dass Balthazar etwas darüber sagen würde, wie gut das Buch sei, doch er überraschte mich.
»Es handelt von einer Frau, die selbst bestimmen will, wer oder was sie ist, anstatt sich von anderen definieren zu lassen.« Mühelos schob er sich durch die Menge, ohne den Blick von mir abzuwenden. Der einzige andere Typ, der mich je so intensiv angesehen hatte, war Lucas gewesen.
»Ich habe so ein Gefühl, dass dir
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