Evernight Bd.1 Evernight
draufzusetzen, wenn man für Pferde baute, überlegte ich. Noch dichter stehende große Bäume umgaben das Haus und tauchten alles in so tiefe Schatten, dass es beinahe dunkel war und nur einige vereinzelte, schwache Sonnenstrahlen überhaupt den Boden berührten. Auf Zehenspitzen schlich ich zur Hinterseite des Hauses, beugte mich um die Ecke und sah, wie Lucas aus Mrs. Bethanys Fenster sprang. Er landete geschmeidig und schloss sorgsam das Fenster hinter sich.
Dann drehte er sich um und sah mich. Eine Sekunde lang starrten wir uns nur an. Es war, als wäre er derjenige, der mich dabei ertappt hatte, wie ich etwas Verbotenes tat, und nicht umgekehrt.
»Hey«, platzte ich heraus.
Anstatt eine Entschuldigung für sein Verhalten zu erfinden, grinste er mich an: »Hey. Warum bist du denn nicht beim Essen?«
Als er sich zu mir gesellte, begriff ich, dass er so tun wollte, als sei alles in bester Ordnung und als hätte ich überhaupt nichts Ungewöhnliches gesehen. Aber hatte ich nicht eigentlich genau das Gleiche getan, als ich Hallo sagte, anstatt ihn zu fragen, was er da trieb?
»Ich glaube, ich bin einfach nicht hungrig,«
»Sieht dir gar nicht ähnlich, dass du dem Thema ausweichst.«
»Dem Thema Essen?«
»Ich dachte mehr daran, weshalb du mich nicht fragst, warum ich in Mrs. Bethanys Büro eingebrochen bin.«
Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus, und wir mussten beide lachen. »Okay, wenn du mir davon erzählen willst, kann es ja nichts allzu Schlimmes sein.«
»Meine Mum hat immer behauptet, sie würde nur unter einer Bedingung die Einverständniserklärung unterzeichnen, mit der ich an unseren freien Samstagen nach Riverton gehen darf, nämlich wenn ich nichts als Einsen im Zwischenzeugnis hätte. Aber ich hatte so eine Ahnung, dass sie sie auch so schon längst unterzeichnet hat, und da ich kein besonders gutes Gefühl in Chemie habe, beschloss ich, mal nachzusehen. Wie ich dir schon gesagt habe, bin ich nicht besonders gut darin, mich an die Regeln zu halten.«
»Natürlich.« Auch wenn es falsch von ihm war, so etwas zu tun, war es doch so schlimm auch wieder nicht, oder? Es fiel mir leicht, Lucas zu vertrauen. »Und, hast du es herausgefunden?«
»Na klar.« Lucas’ Selbstzufriedenheit war offensichtlich übertrieben, um mich zum Lachen zu bringen, was auch funktionierte. »Selbst wenn ich eine Zwei bekomme, bin ich auf der sicheren Seite.«
»Was ist denn an den freien Wochenenden so wichtig? Ich habe im Sommer, bevor die ganzen Schüler gekommen sind, einige Zeit in der Stadt verbracht. Glaub mir, da gibt es nicht viel zu sehen.«
Wir liefen im Schatten und schlichen uns vorsichtig näher an Evernight heran, indem wir von der Seite kamen, sodass wir uns unter die Schüler mischen konnten, ohne beachtet zu werden. Wir waren beide ganz gut darin, uns unbemerkt fortzubewegen. »Habe nur gedacht, das könnte ja ein ganz guter Ort für uns sein, um ein bisschen Zeit miteinander zu verbringen. Außerhalb von Evernight. Was meinst du?«
Wenn man an unsere letzte Unterhaltung im Pavillon dachte, hätte ich gar nicht so überrascht sein oder mich überfahren fühlen sollen. Aber so war es nun mal, und es war gleichzeitig beängstigend und phänomenal. »Ja, ich meine, das würde mir gefallen.«
»Mir auch.«
Danach sagten wir eine Zeit lang beide kein Wort. Ich wünschte mir, er würde meine Hand nehmen, aber ich war noch nicht mutig genug, selbst nach seiner zu greifen. Fieberhaft versuchte ich, an etwas Spannendes in Riverton zu denken, einer Stadt, die zwar größer als Arrowwood war, aber sogar noch langweiliger. Immerhin gab es ein Kino, in dem sie manchmal vor der regulären Abendvorstellung Klassiker zeigten. »Magst du alte Filme?«, wagte ich einen Vorstoß.
Lucas’ Augen leuchteten. »Ich liebe Filme - alte, neue, was auch immer. Von John Ford bis Quentin Tarantino ist alles prima.«
Erleichtert erwiderte ich sein Lächeln. Vielleicht war wirklich alles auf dem besten Weg, gut zu werden.
Etwas später in der gleichen Woche schlug das Wetter über Nacht um. Morgens wachte ich von der Kälte auf, und ich konnte den Wetterumschwung in den Knochen spüren.
Ich kuschelte mich tiefer in meine Decke, aber das nützte nicht viel. Der Herbst hatte die Fensterscheibe mit Frost überzogen. Ich würde die dicke Steppdecke vom obersten Einlegeboden meines Schranks holen müssen; von nun an würde es schwer werden, sich warmzuhalten.
Das Licht war noch weich und rosig, und ich wusste,
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