Evernight Bd.1 Evernight
versuchte, es ins Lächerliche zu ziehen.
»Nicht auf diese Weise böse. Ich spreche von dem wahrhaft Bösen.« Ihre Stimme zitterte. »Glaubst du an das Böse?«
So etwas hatte mich noch niemand gefragt, aber ich kannte die Antwort.
»Ja, tue ich.«
Raquel schluckte so krampfhaft, dass ich es hören konnte, und wir starrten uns einige Augenblicke lang an, unsicher, was wir als Nächstes sagen sollten. Ich wusste, dass ich ihr Mut machen sollte, aber die Tiefe ihrer Angst zwang mich dazu, ihr zuzuhören.
»Ich habe hier immer das Gefühl, beobachtet zu werden«, sagte sie. »Ständig. Selbst wenn ich allein bin. Ich weiß, dass das verrückt klingt, aber so ist es. Manchmal habe ich das Gefühl, noch immer in meinem Albtraum gefangen zu sein, auch wenn ich schon aufgewacht bin. Letzte Nacht habe ich Dinge gehört - ein Kratzen und dumpfe Schläge auf dem Dach. Wenn ich aus dem Fens ter schaue… Ich schwöre dir, dass ich manchmal einen Schatten in den Wald rennen sehen kann. Und die Eichhörnchen… Du hast sie doch auch schon gesehen, wie sie hier sterben, nicht wahr?«
»Einige.« Vielleicht war es die herbstliche Kälte in dem zugigen, alten Badezimmer, die mich schaudern ließ, aber vielleicht steckte mich auch Raquels Furcht an.
»Fühlst du dich hier je sicher? Jemals?«
Ich stammelte: »Ich fühle mich nicht sicher, aber ich glaube nicht, dass das seltsam ist.« Doch dann fiel mir ein, dass seltsam für verschiedene Leute eine unterschiedliche Bedeutung hatte. »Es ist nur diese Schule. Dieser Ort. Die Gargoyles und die Steine, die Kälte und das Auftreten der Leute bewirken, dass ich mich so fehl am Platze fühle. Allein. Und verängstigt.«
»Evernight saugt dir das Leben aus.« Raquel lachte schwach. »Hör mir nur zu: Das Leben aussaugen . Ich bin immer noch mit den Gedanken bei Vampiren.«
»Du musst dich ein bisschen ausruhen«, sagte ich bestimmt und klang dabei viel zu sehr nach meiner Mutter. »Dich ausruhen und was anderes lesen.«
»Ruhe klingt gut. Glaubst du, dass die Schulkrankenschwester auch Schlaftabletten ausgibt?«
»Ich bin mir nicht mal sicher, ob es hier überhaupt eine Schulkrankenschwester gibt.« Als Raquel verblüfft die Nase krauste, schlug ich vor: »Vielleicht kriegst du auch was in der Drogerie, wenn wir nach Riverton gehen.«
»Vermutlich. Gute Idee auf jeden Fall.« Sie hielt inne, dann lächelte sie mich unter Tränen an. »Danke, dass du mir zugehört hast. Ich weiß, dass das alles durchgedreht klingt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Wie ich schon gesagt habe: Evernight macht den Leuten einfach zu schaffen.«
»In der Drogerie«, flüsterte Raquel vor sich hin, während sie ihre Sachen zusammensammelte, um in ihr Zimmer zurückzukehren. »Schlaftabletten. Vielleicht verschlafe ich sie damit einfach.«
»Was willst du verschlafen?«
»Die Geräusche auf dem Dach.« Ihr Gesicht war jetzt ganz ernst und schien zu jemandem zu gehören, der viel älter als sie selber war. »Denn irgendjemand ist da nachts oben. Ich kann ihn hören. Dieser Teil gehört nicht zum Albtraum, Bianca. Das ist wirklich.«
Noch lange, nachdem sie zurück ins Bett gegangen war, stand ich allein im Badezimmer und konnte nicht aufhören zu zittern.
5
Normalerweise würde man doch glauben, dass ein Mädchen, das kurz vor ihrer allerersten Verabredung mit einem Jungen steht, stundenlang nicht mehr vom Spiegel wegzubekommen sei. Aber als der Freitagsausflug nach Riverton näher rückte, war Patrice so damit beschäftigt, ihr eigenes Aussehen selbst im Spiegel zu überprüfen, dass ich mich genauso gut im Dunkeln hätte zurechtmachen können. Sie starrte ihr Gesicht und ihre Figur im großen Spiegel an, kniff die Augen zusammen und drehte sich hin und her, konnte aber nicht entdecken, wonach sie suchte, ob es nun irgendeine Unzulänglichkeit oder ihre eigene Schönheit war. »Du siehst toll aus«, sagte ich. »Aber iss mal was, okay? Du bist ja praktisch schon unsichtbar.«
»Es ist nicht einmal mehr eine Woche bis zum Herbstball. Ich will so gut wie möglich aussehen.«
»Was nützt dir der Herbstball, wenn du ihn nicht genießen kannst?«
»Auf diese Weise werde ich ihn umso mehr genießen.« Patrice lächelte mich an. Sie konnte gleichzeitig von oben herab und ganz ernst sein. »Eines Tages wirst du das begreifen.«
Ich konnte es nicht leiden, wenn sie mich behandelte, als wäre ich ein kleines Kind, aber sie hatte etwas bei mir gut. Für meine
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