Evernight Bd.1 Evernight
sieht so aus, als wäre das ein guter Zeitpunkt, eine meiner langatmigen Geschichten zu erzählen, die nie zu einem Ende kommen.«
»Guter Plan«, entgegnete Lucas kurz angebunden.
Vic hielt sein Versprechen und plapperte ohne Pause über Surfbretter und Bands und seltsame Träume, die er irgendwann mal gehabt hatte, und er hörte nicht mehr auf zu reden, bis wir wieder an der Schule angekommen waren. Das bewahrte mich davor, mit Lucas sprechen zu müssen, und er für seinen Teil sagte ebenfalls kein Wort.
6
Nach dem Ausflug nach Riverton fühlte ich mich wie eine Idiotin, die Lucas für nichts und wieder nichts abserviert hatte. Diese Bauarbeiter hatten getrunken. Außerdem waren sie zu viert und Lucas ganz auf sich allein gestellt gewesen. Vielleicht hatte Lucas ihnen beweisen müssen, dass er es draufhatte, um nicht selbst zusammengeschlagen zu werden. Wenn er das Einzige getan hatte, was ihm noch übrig geblieben war, welches Recht hatte ich dann, ihn zu verurteilen?
»Das geht gar nicht«, sagte Raquel, als ich mich ihr am nächsten Tag anvertraute, während wir über das Schulgelände spazierten. Die Blätter hatten sich inzwischen verfärbt, sodass die Hügel in der Ferne tiefrot und golden erstrahlten. »Wenn ein Typ gewalttätig wird, muss man sehen, dass man die Kurve kriegt, und damit basta. Sei dankbar, dass du sein Temperament kennengelernt hast, bevor du selbst diejenige bist, auf die er wütend ist.«
Es wunderte mich, wie nachdrücklich sie war. »Du klingst, als wüsstest du, wovon du sprichst.«
»Als wenn du noch nie einen Film gesehen hättest, der auf wahren Begebenheiten beruht.«
Raquel wich meinem Blick aus und nestelte an ihrem geflochtenen Lederarmband herum. »Jeder weiß das. Männer, die schlagen, sind schlechte Männer.«
»Ich weiß, dass er überreagiert hat. Aber Lucas würde mir niemals wehtun.«
Raquel zuckte mit den Schultern und hüllte sich tiefer in ihren Schulblazer, obwohl es draußen so kalt nun auch wieder nicht war. Zum ersten Mal fragte ich mich, wie viel von ihrem zurückhaltenden Auftreten und ihrer jungenhaften Erscheinung dazu dienen sollte, ihr Aufmerksamkeiten vom Leib zu halten, die sie nicht haben wollte. »Niemand denkt, dass etwas Schlimmes geschehen könnte, bis es geschieht. Und außerdem erzählt er dir doch bestimmt immer wieder, wie alle hier nerven, und dass du dich nicht mit deiner Zimmerkameradin anfreunden sollst und auch sonst mit niemandem, oder?«
»Tja, na ja… schon, aber…«
»Nichts aber . Lucas hat versucht, dich von allen anderen zu isolieren, damit er mehr Macht über dich hat.« Raquel schüttelte den Kopf. »Du bist besser ohne ihn dran.«
Ich wusste, dass sie Lucas unrecht tat, aber ich wusste auch, dass ich weit entfernt davon war, ihn zu verstehen.
Warum hatte Lucas damit angefangen, meine Eltern zu kritisieren? Das einzige Mal, dass er uns alle zusammen gesehen hatte, war im Kino gewesen, und dort hatten sie sich freundlich verhalten und waren auf ihn zugegangen. Er hatte behauptet, es läge an meinem halbherzigen Versuch, am ersten Schultag wegzulaufen, aber ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich glaubte. Wenn er ein Problem mit Mum und Dad hatte, dann entsprang es eindeutig einer seltsam paranoiden Sorge, mit der ich lieber nichts zu tun haben wollte. Trotzdem sann mein Hirn ungebeten über immer neue Erklärungsmöglichkeiten nach. Vielleicht hatte er vor mir eine Freundin gehabt - wahrscheinlich ein schickes, selbstbewusstes Mädchen, das um die ganze Welt gereist war -, und ihre Eltern waren hochnäsig und unfair und einfach blöd gewesen. Sie hatten Lucas ausgeschlossen oder ihm sogar verboten, ihre Tochter je wiederzusehen, sodass er nun Angst hatte und misstrauisch war.
Diese ausgedachte Geschichte tat mir überhaupt nicht gut. Zunächst bewirkte sie, dass es mir um Lucas leidtat, so als ob ich plötzlich verstanden hätte, warum er sich derart merkwürdig verhalten hatte, obwohl ich in Wahrheit gar nichts begriffen hatte. Außerdem fühlte ich mich dieser von mir erfundenen, weltgewandten früheren Freundin gegenüber unterlegen, und wie traurig war es denn, sich von einer Person bedroht zu fühlen, die gar nicht existierte?
Ich glaube, ich hatte bis dahin nicht begriffen, wie wichtig Lucas für mich geworden war - bis zu diesem Augenblick, in dem wir auseinandergegangen waren und ich gewichtige Gründe dafür hatte, mich von ihm fernzuhalten. Der Chemiekurs, den wir beide belegt hatten,
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